Die Ausgangslage schien günstig: Unmittelbar nach dem "Schwarzen Donnerstag", dem brutalen Polizeieinsatz am 30. September 2010, war die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 so präsent wie nie zuvor; an ihren Massendemonstrationen nahmen bis zu 100.000 Menschen teil, die Regierung um Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) war scharfer Kritik und Druck ausgesetzt. Und sie reagierte auch: Bereits einen Tag nach dem Polizeieinsatz erklärte die Landesregierung ihr Interesse an Gesprächen mit den ProjektgegnerInnen, um die aufgebrachte Stimmung in geregelte Bahnen zu lenken. Auch die Grünen im Stuttgarter Landtag zeigten sich gesprächsbereit und schlugen bereitwillig das CDU-Mitglied Heiner Geißler als Schlichter vor, dessen Mitgliedschaft im globalisierungskritischen Netzwerk attac seine Parteimitgliedschaft zu neutralisieren schien.
Was als ad hoc-Lösung von den Grünen gemeinsam mit der CDU als wichtiger Weg zur Befriedung des Protests präsentiert wurde, war lange vorbereit worden – von den Grünen. Schon Mitte August 2010 warb der damalige Fraktionsvorsitzende der Landesgrünen, Winfried Kretschmann, auf einer Montagsdemo gegen S 21 für Gespräche mit den Projektverantwortlichen. Der Plan sah laut Kretschmann vor, innerhalb eines "öffentlichen Expertenstreits" die Sach- und Faktenlage zu S 21 zu diskutieren - jenseits aller politischen Fragen. Zwei Gesprächsanläufe innerhalb der folgenden Wochen scheiterten, denn die Forderung des Aktionsbündnisses gegen S 21 nach einem Bau- und Vergabestopp als Prämisse wurde jeweils abgelehnt.
Das war im Oktober nun anders:Dieses Mal einigten sich die Konfliktparteien auf einen Bau- und Vergabestopp, die Schlichtung konnte beginnen. Und zu Beginn der Schlichtungsgespräche versprach Geißler dann auch ganz im Sinne der Protestbewegung, dass "alle Fakten auf den Tisch" kommen sollten. Also ein Faktencheck, wie bereits Mappus die Gespräche bezeichnet hatte. Als Ursache für den Konflikt identifiziert Geißler ohnehin die mangelnde Informiertheit der Bevölkerung. Entgegen einer tarifrechtlichen Schlichtung sollten am Ende alle Konfliktparteien selbstständig ihre Konsequenzen ziehen. So kam es zu einer semantischen Doppelbeschreibung: ein Schlichtungsverfahren, das auch als Faktencheck bezeichnet werden kann. Das ließ natürlich viel Raum für Interpretationen – und Hoffnungen.
Basisbewegung kaum sichtbar
Bei strategischen Fragen zum Vorgehen spielte die Basisbewegung der S-21-Gegner keine entscheidende Rolle. Früh wurden hier Bedenken über die Schlichtungsgespräche geäußert und die Teilnahme der Protestbewegung kritisiert. Doch diese Kritik fand nicht Einzug in eine bewegungsöffentliche Debatte. Die basisnahe Gruppe der Aktiven Parkschützer stieg zwar nach Ende der Sondierungsgespräche aus, doch als Begründung nannten sie nicht etwa Verfahrenskritik, sondern dass kein konsequenter Baustopp vorgesehen war.
Nun sollte der Konflikt also nicht mehr durch Protest auf der Straße ausgetragen, sondern gemeinsam Verfahren ausgehandelt werden. Er verlagerte sich damit zusehends auf eine parteipolitische Ebene und in ein Verfahren, das ebendiese hegemoniale Ordnung zwischen Regierung und Opposition widerspiegelte. Das ist deshalb so bemerkenswert, weil die Protestbewegung ja eigentlich nach dem "Schwarzen Donnerstag" im Aufwind war. Doch während der Schlichtungsgespräche kamen die allermeisten Protestaktivitäten zum Erliegen. Es galt schließlich, die von den Schlichtungsteilnehmenden vereinbarte "Friedenspflicht" einzuhalten. Und anstatt aus der Basisbewegung mit dem Protest so lange fortzufahren, bis womöglich Neuwahlen in greifbare Nähe rückten, oder selbst einen Aushandlungsprozess zu ihren eigenen Prämissen anzustreben, zogen sich die bislang Protestierenden in die Passivität von Zuschauenden zurück. Gemeinsames Schlichtungsschauen im Club "Schocken" statt ziviler Ungehorsam stand auf dem Programm.
Legitimation durch Verfahren
Das ist umso problematischer, wenn bedacht wird, welche Konsequenzen die Teilnahme an einem Entscheidungsverfahren haben kann, auch wenn es semantisch als "Faktencheck" abgeschwächt wurde. Um die dahinterliegenden Logiken zu verstehen, kann ein soziologischer Klassiker zu Rate gezogen werden. Bereits im Jahr 1969 veröffentlichte Niklas Luhmann die Monografie "Legitimation durch Verfahren". Seine Schlussfolgerungen als Verwaltungsexperte sind so deutlich wie zeitlos. Luhmann formuliert den wichtigsten Grundsatz folgendermaßen: "Verpaßte Gelegenheiten kehren nicht wieder. Verspätete Proteste sind unglaubwürdig." Am Ende eines Verfahrens steht laut Luhmann eine – wie auch immer geartete – Entscheidung, die zu Verfahrensbeginn noch offen war. Durch das Durchlaufen des Verfahrensprozesses wird letztendlich die Legitimation ebendieser Entscheidung hergestellt, die nachträglich auch nicht mehr umgedeutet werden kann.
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Werner
am 26.10.2020