"In Stuttgart wackelte die Demokratie. Das darf nie wieder passieren." Der Mann, der das kurz nach dem 30. September 2010 sagt, ist nicht etwa einer der vielen Tausend Demonstranten, die sich an dem kühlen Herbsttag im Stuttgarter Schlossgarten den Einsatzkräften in den Weg stellten. Sondern der Mannheimer Polizeikommissar Thomas Mohr, der mit einer Hundertschaft an dem Einsatz beteiligt und von diesem schockiert war. Er gehört zu den wenigen Polizisten, die sich danach kritisch äußern. Gegenüber dem "Hamburger Abendblatt" sagt er, er und seine Kollegen würden "von der Politik missbraucht und verheizt." Wie brutal viele seiner Kollegen vorgingen, habe er aus den geschlossenen Reihen seiner Hundertschaft "wie ohnmächtig" mit angesehen.
Ein Gefühl der Ohnmacht teilen an jenem Tag viele Stuttgarter, die erleben, wie martialisch ausgestattete Polizeieinheiten Meter um Meter des Parks räumen, wie Wasserwerfer, Pfefferspray und Knüppel gegen fast ausschließlich friedlich demonstrierende Bürger eingesetzt werden. Eine einseitige Aggression, die über Stunden so verstörend gleichförmig und mit einem konstant hohen Maß an Gewalt erfolgt, dass der oft bemühte Begriff der "Eskalation" nicht recht passen mag. Verstörend auch, weil sich damit ein Umgang des Staates mit seinen Bürgern offenbart, den Viele nicht für möglich gehalten haben.
Schon Tage vor dem 30. September scheint klar, dass im Rahmen des Projekts Stuttgart 21 demnächst die ersten Baumfällungen für das Gelände des geplanten Grundwassermanagements anstehen. Die Polizei plant, wie später der erste Landtags-Untersuchungsausschuss zum Polizeieinsatz zu Tage fördert, einen Überraschungscoup am 30. September um 15 Uhr. Als dieser Termin durchsickert, wird am 29. September in einer kurzfristig von Ministerpräsident Stefan Mappus anberaumten Sitzung mit der Polizeiführung und Ministern der vorgezogene Einsatztermin um 10 Uhr beschlossen (Die genaue Chronologie der Ereignisse rekonstruierte Kontext 2011). Die für diesen Tag angemeldete Schülerdemo, deren Abschlusskundgebung im Schlossgarten erfolgen soll, ist der Polizei bekannt. Polizeipräsident Stumpfs Plan: Noch vor Parkschützern und Schülerdemo im Park zu sein, um mit geringstmöglichem Aufwand die relevanten Flächen abzusperren.
Der Plan geht gründlich schief. Die Polizeihundertschaften, die auch aus Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen kommen, treffen nicht rechtzeitig und unzureichend informiert im Schlossgarten ein. Als um 10:25 Uhr per SMS der Parkschützer-Alarm ausgelöst wird und sich die Nachricht verbreitet, dass die Polizei den Schlossgarten abzusperren beginnt, verlagert sich die Schülerdemo schon früher in den Park. Schüler klettern auf ein Fahrzeug mit Absperrgittern und blockieren den Weg. Statt wie beim Nordflügelabriss auf Deeskalation zu setzen, reagiert die Polizei brutal mit Knüppel- und Pfefferspray-Einsatz. Die ersten Dutzend Verletzten sind Kinder und Jugendliche.
Gegen 12:50 Uhr beginnt der Wasserwerfereinsatz
Nach den Schülern kommen bald mehr Demonstranten in den Park, schnell werden es Tausende. Sie rufen: "Wir sind friedlich, was seid ihr?" Um 12 Uhr gibt Polizeipräsident Stumpf eine Pressekonferenz zu dem Einsatz. Sein Handy hat er ausgeschaltet. Gegen 12.50 Uhr beginnt der Wasserwerfereinsatz – seit rund 40 Jahren der erste in Stuttgart. Der Weg am Nordrand des Parks soll von blockierenden Bürgern freigemacht werden. Über etwa vier Stunden der gleiche Ablauf: Scharfer Wasserwerferstrahl erst auf die vordersten Reihen, wo sich Jugendliche wie Rentner mit Planen zu schützen versuchen, vom Strahl getroffen übereinander fallen, wegtorkeln oder von anderen gestützt außer Reichweite geführt werden. Dann zielt der Strahl weiter nach hinten und in großzügigen Schwenks seitlich über die Menge. Einige Minuten Pause, dann geht es von Neuem los.
Die Zahl der Verletzten steigt schnell. Das Foto des von zwei Demonstranten gestützten Rentners Dietrich Wagner, dem Blut aus beiden Augen läuft, nachdem ihn ein Wasserwerferstrahl frontal ins Gesicht getroffen hat, geht durch alle Medien. Es wird zur traurigen Ikone des Protests.
Innenminister Heribert Rech spricht derweil von Pflastersteine werfenden Demonstranten – schon wenige Stunden später muss er einräumen, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Es flogen nur vereinzelt Kastanien.
Am Abend keimt bei den Demonstranten noch einmal Hoffnung auf, als bekannt wird, dass ein Schreiben des Eisenbahnbundesamts (EBA) an die Bahn, das Regierungspräsidium und das Umweltamt gegangen sei, wonach die Baumfällungen nicht genehmigt seien, da noch wichtige Unterlagen von der Bahn fehlten. Es geht darum, ob die Bahn den unter Schutz stehenden Juchtenkäfer aus den Bäumen umsiedeln kann. Die Bahn reagiert darauf nicht und schafft Fakten. Kurz vor 1 Uhr nachts beginnen Spezialmaschinen damit, die vorgesehenen 25 Bäume herauszureißen oder zu fällen. Immer wieder ein kurzes Zittern der Äste, Krachen, dann wird geschreddert. Jedes Mal ächzt die Menge, wankt, viele weinen, schreien "Aufhören", blasen in Trillerpfeifen – oder starren einfach nur fassungslos. Gegen 4:45 Uhr fällt der letzte Baum, eine prächtige Großplatane.
Polizei beziffert 130 Verletzte, Demosanitäter 375
Die Bilanz des Einsatzes: Die Polizei spricht am Tag darauf von 130 Verletzten, die vom Roten Kreuz oder der Berufsfeuerwehr ambulant versorgt oder in Krankenhäuser eingeliefert wurden, zudem von sechs verletzten Polizisten. Doch sind dies nur die Zahlen der öffentlichen Rettungsdienste, die sehr spät zum Park kamen, weil sie von der Polizei nicht über den Einsatz informiert worden waren. Weit höher, bei 375, liegt die Zahl der Verletzten, die von den unabhängigen Demosanitätern laut deren Angaben versorgt wurden, davon allein 320 Verletzungen durch Pfefferspray, 32 Prellungen durch Faust- und Knüppelschläge und 12 Kopfplatzwunden durch Knüppelschläge. Addiert also rund 500 Verletzte, doch Demosanitäter Christoph Hoffmann schätzt die Zahl noch höher, da sehr viele Patienten von gar keinem Rettungsteam behandelt worden seien. Er hat den Eindruck, "dass es sich um 1000 betroffene Bürger gehandelt haben muss".
Am 1. Oktober, kommen nach Veranstalterangaben 100.000 Menschen zu einer Demonstration in den Park, in der Woche darauf sollen es mindestens 125.000 sein. Es sind die bis heute größten Demonstrationen gegen Stuttgart 21.
Kein Politiker tritt wegen des Einsatzes zurück. Ende April 2011 geht Stumpf vorzeitig in den Ruhestand, "aus gesundheitlichen Gründen". Das Wort vom Bauernopfer macht die Runde.
Zwei parlamentarische Untersuchungsausschüsse des baden-württembergischen Landtags befassen sich in der Folge mit dem Polizeieinsatz. Während Grüne und SPD eine politische Einflussnahme durch den früheren Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU) als gegeben betrachten, verneinen die damaligen Regierungsparteien CDU und FDP dies weiterhin. Und ungeachtet der Tatsache, dass im November 2015 das Verwaltungsgericht Stuttgart den Polizeieinsatz für rechtswidrig erklärt hat, ist dessen juristische Aufarbeitung bis heute unbefriedigend.
Was bleibt vom "Schwarzen Donnerstag"? Möglicherweise bei vielen ein erschüttertes Verhältnis zum Staat und den ausführenden Organen seiner Gewalt. "Was sollen die Kinder von unserem Rechtsstaat halten, der sie von der Straße spritzt?", fragt am 30. September 2010 der katholische Pfarrer Michael Brock, damals Stuttgarter Stadtdekan, der den Einsatz über Stunden im Park verfolgt. Die Schüler hätten, so Brock, eine besondere Form des Gemeinschaftskundeunterrichts erlebt.
Info:
Unter dem Motto "Ihre Lügen – unser Zorn" ruft das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 am heutigen Mittwoch zu einer Demonstration zur Erinnerung an den Schwarzen Donnerstag auf. Los geht’s um 17 Uhr mit einem Schweigemarsch am Schillerplatz, ab 18 Uhr schließt sich eine Kundgebung vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof an, mit Redebeiträgen von Joe Bauer und Dieter Reicherter, Kabarett von Jess Jochimsen und Musik von Stefan Hiss & Los Santos. Es moderiert Sidar Carman.
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Jerg Ratgeb
am 03.10.2020