Aber ganz vergeblich war die Arbeit nicht. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat am 18. November 2015 ein bahnbrechendes Urteil gefällt. Demzufolge waren der Polizeieinsatz und die dabei getroffenen Maßnahmen rechtswidrig. Der lange Kampf für Recht und Ordnung – um diese Begriffe einmal mit richtiger Zielrichtung zu gebrauchen – hat sich also gelohnt. Zitat aus dem Urteil: "Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie gebietet stets die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes, wenn die Grundrechtsausübung durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder die Versammlung aufgelöst worden ist; derartige Eingriffe sind die schwerste mögliche Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit. (...) Wenn der Staat – vorliegend der Polizeivollzugsdienst – einer Menschenansammlung von vornherein den Schutz des Artikels 8 GG abspricht und gegen sie mit dem Instrumentarium des allgemeinen Polizeirechts vorgeht (...), wird die Versammlungsfreiheit (...) ebenso schwer, wenn nicht gar noch schwerer beeinträchtigt als im Fall eines Versammlungsverbots oder einer Versammlungsauflösung."
Und weiter: "Die Versammlung im Mittleren Schlossgarten in Stuttgart am 30. September 2010 war nicht unfriedlich; eine kollektive Unfriedlichkeit lässt sich entgegen der Auffassung des beklagten Landes nicht feststellen."
Immerhin: Das Land hat das Urteil akzeptiert, Ministerpräsident Kretschmann hat sich als dessen Folge bei den Verletzten entschuldigt, Schmerzensgeldzahlungen an die Schwerverletzten wurden geleistet (Kontext berichtete).
Deutliche Worte fand das Verwaltungsgericht für den Einsatz der folgenschweren Wasserstöße: "Nach Auskunft des beklagten Landes, die durch das Betrachten des vorhandenen Videomaterials bestätigt wird, verfügten die am 30. September 2010 eingesetzten Wasserwerfer über keine Zielvorrichtung. Bei Abgabe der Wasserstöße in die dicht stehende Menschenansammlung war es dementsprechend sehr wahrscheinlich, dass Personen im Gesicht getroffen werden würden. Nach dem Eindruck, den die Kammer aus dem vorhandenen Material gewonnen hat, wäre es eher Zufall gewesen, wenn bei dem teilweise sehr massiven Einsatz der Wasserwerfer niemand im Gesicht getroffen worden wäre." "Angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass Personen im Gesicht getroffen werden würden, hätten wohl jedenfalls die Wasserstöße zur Vermeidung der Unangemessenheit der Anwendung unmittelbaren Zwangs unterbleiben müssen."
Strafverfolgung blieb hinter dem rechtlich Möglichen
Dennoch hatte die Staatsanwaltschaft Stuttgart trotz einer gegenteiligen Entscheidung des Oberlandesgerichts nur Fälle als Körperverletzung verfolgt, wenn Menschen am Kopf getroffen und dort verletzt worden waren. Alle anderen polizeilichen Maßnahmen hielt sie für rechtmäßig. Dementsprechend das dürftige Ergebnis ihrer Ermittlungen: Gegen den Führer der Wasserwerferstaffel (wegen sieben Verletzten) und den Kommandanten des Wasserwerfers 1 (wegen fünf Verletzten) wurde jeweils eine siebenmonatige Freiheitsstrafe unter Strafaussetzung zur Bewährung verhängt. Der Kommandant des Wasserwerfers 2 erhielt wegen dreier verletzter Personen eine Geldstrafe von 120 Tagessätzen. Und dies nicht etwa, weil sie die Kopfverletzungen durch Wasserstöße zumindest billigend in Kauf genommen hätten, sondern vielmehr nur wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt. Vergleichbar einem Autofahrer, der infolge Unachtsamkeit einen Unfall mit Personenschaden verursacht.
Bleibt noch die Verurteilung des damaligen Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf, der als Polizeiführer für den Einsatz verantwortlich gewesen war. Obwohl dieser zum Zeitpunkt der rechtswidrigen massiven Wasserstöße zusammen mit dem die Ermittlungen leitenden Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler vor Ort gewesen war, erfolgte zunächst eine Verfahrenseinstellung durch Häußlers Untergebene mit der falschen Begründung, Stumpf habe von den Wasserstößen nichts gewusst und habe seine Sorgfaltspflichten nicht verletzt. Erst die Angaben der Angeklagten im Wasserwerferprozess, über die Kontext mit einem Foto von Stumpf und Häußler auf dem sogenannten Feldherrnhügel berichtete, führten zur Aufnahme von Ermittlungen und Stumpfs Verurteilung zu einer Geldstrafe von ebenfalls 120 Tagessätzen wegen fahrlässiger Körperverletzung (vier Verletzte).
Im Prozess des Landgerichts Stuttgart gegen zwei Einsatzabschnittsleiter wegen der Wasserwerfereinsätze wurde das Verfahren wegen geringer Schuld gegen Zahlung eines Geldbetrages eingestellt (Kontext berichtete). Eine gleichartige Einstellung erfolgte auch in einem Verfahren gegen einen weiteren Angehörigen der Wasserwerferstaffel.
Obwohl entgegen allen Dienstvorschriften in vielen Fällen Pfefferspray und Schlagstöcke ohne Notwendigkeit eingesetzt worden waren, hielt die Staatsanwaltschaft diese Verstöße nicht für verfolgungswürdig. Erfolg hatten nur zwei Anzeigen: Diejenige eines Rechtsanwalts, der nach einem Termin am Amtsgericht friedlich durch den Schlossgarten gegangen war und ohne jeglichen Anlass von einem Polizisten niedergeknüppelt worden war. Und schließlich die Anzeige von Polizeibeamten gegen ihren eigenen Kollegen. Dieser hatte eine ältere Frau ohne jegliche Rechtfertigung mit Pfefferspray angegriffen und verletzt.
Somit blieb schon nach den amtlichen Zahlen die Verletzung von weit über 100, nach Angaben der Protestbewegung sogar von circa 400 Menschen strafrechtlich ungesühnt. Sie wurde von der Staatsanwaltschaft als rechtmäßig angesehen oder aber die Täter konnten nicht ermittelt werden. Die notwendige Konsequenz, nämlich Einführung einer Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte, hat die Politik im Land entgegen dem grün-roten Koalitionsvertrag von 2011 bis heute nicht gezogen.
Grundproblem: Ermittelnde waren am Einsatz beteiligt
Wie hätten der Polizeieinsatz besser aufgeklärt und Straftaten geahndet werden können? Sicher nicht mit der vorhandenen Struktur. Voraussetzung wären objektive Ermittlungen durch eine nicht in den Einsatz eingebundene Staatsanwaltschaft und unbefangene Polizeibeamte aus einem anderen Bundesland, vielleicht einer Sonderkommission eines Landeskriminalamts, gewesen.
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herkenrath
am 02.10.2020