KONTEXT:Wochenzeitung
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300 Euro gegen die Schmerzen

300 Euro gegen die Schmerzen
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Winfried Kretschmann hat es versprochen: Die Opfer des Schwarzen Donnerstags werden entschädigt. Einen Nachtragshaushalt braucht es deswegen aber nicht. Nur 19 Geschädigte haben überhaupt Schmerzensgeld beantragt, und in den meisten Fällen bietet das Land gerade mal 300 Euro an.

Dieser Tage bekam der ehemalige FDP-Landtagsabgeordnete Volker Klenk gleich zweimal Post: Zuerst von der Staatsanwaltschaft Stuttgart "mit freundlichen Grüßen auf Anordnung" eine Verfügung vom 8. 7. 2016 mit der Entscheidung: "Das Ermittlungsverfahren gegen unbekannt wegen Körperverletzung im Amt wird nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt." Wenig später bestätigte ihm das Polizeipräsidium Stuttgart, "Referat Recht und Datenschutz", mit Schreiben vom 14. 7. 2016, er sei "nach den Ergebnissen der staatsanwaltlichen Ermittlungen im Rahmen des polizeilichen Einsatzes durch Anwendung von Pfefferspray beim Sehen beeinträchtigt" worden. Man habe sich daher mit seiner Schmerzensgeldforderung vom 10. 2. 2016 befasst.

In Pfefferspray sind nur natürliche und ungiftige Wirkstoffe

Der Ex-Mdl (1976 bis 80) wird vom Polizeipräsidium mit dem Hinweis beruhigt: "Beim Wirkstoff des Pfeffersprays (Oleoresin Capsicum) handelt es sich um einen natürlichen und ungiftigen Wirkstoff. Er erzeugt kurzfristig heftige Reaktionen auf der Haut und in den Augen, die erfahrungsgemäß nach 15 bis 30 Minuten wieder abklingen und keine weiteren Schäden verursachen. Vor diesem Hintergrund handelt es sich um eine leichte körperliche Beeinträchtigung ohne weitergehende Folgen. Nach Abwägung der bekannten Umstände und unter Berücksichtigung von Vergleichsfällen ist in Ihrem Fall eine Entschädigung in Höhe von 300,00 € angemessen."

Auf das Vorbringen Klenks, seine Beschwerden hätten nach dem 30. 9. 2010 längere Zeit angehalten, auch jetzt leide er noch gelegentlich darunter, wird dabei nicht eingegangen. Und auch nicht auf die "Handhabungshinweise für Reizstoff-Sprühgeräte mit Pfefferspray" des Polizeitechnischen Instituts der Deutschen Hochschule der Polizei. Dort wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass längere Einwirkung von Pfefferspray auf das Auge "zu einer schweren und schlimmstenfalls irreversiblen Schädigung des Auges führen" kann. Und in einem Merkblatt der Polizei-Führungsakademie Münster heißt es gar: "Betroffene müssen so lange, bis die Wirkung des Reizstoffes abgeklungen ist, unter ständiger Beobachtung bleiben." So eine Betreuung hätten sich die Verletzten im Schlossgarten auch gewünscht.

Wink mit dem Zaunpfahl: Ansprüche sind verjährt

Dann winkt der Verfasser des Schreibens an Klenk noch schnell mit dem Zaunpfahl: "Vorsorglich weisen wir darauf hin, dass der Schadenersatzanspruch bereits durch Zeitablauf verjährt ist (§§ 195, 199 BGB)." Dieser Satz findet sich in allen Kontext vorliegenden Schreiben des Leitenden Regierungsdirektors Gerhard Groß, der im Polizeipräsidium Stuttgart über die Ansprüche entscheidet. Das ist alles andere als unumstritten, denn ausgerechnet dieses Polizeipräsidium, vor allem dessen damaliger Präsident, der inzwischen wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt vorbestrafte Siegfried Stumpf, hat die rechtswidrigen Verletzungen von zahlreichen Demonstrationsteilnehmern schließlich zu verantworten. Zum einen. Und zum anderen hat ebenjener Gerhard Groß im Herbst 2015, als es vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart um die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes im Stuttgarter Schlossgarten ging, aufseiten des Landes die Meinung vertreten, die Gewalt am Schwarzen Donnerstag sei von den Demonstranten ausgegangen (<link http: www.kontextwochenzeitung.de politik nicht-alles-ist-verjaehrt-3279.html _blank external-link>Kontext berichtete).

Immerhin: Im Gegensatz zu den übrigen Schreiben wird Edmund Haferbeck, einer der Kläger jenes Verfahrens beim Verwaltungsgericht Stuttgart, das die Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen festgestellt hatte, nach der Zusage von 300 Euro Entschädigung mit warmherzigen Worten in eine bessere Zukunft entlassen: "Wir hoffen, dass damit die Angelegenheit zu einem versöhnlichen Ende kommen kann." Von Versöhnung und Entschuldigung war schließlich die Rede gewesen beim Empfang des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in der Villa Reitzenstein im vergangenen Dezember. Kretschmann hatte damals eine zügige Entschädigung der Verletzten versprochen. Später war dann das Polizeipräsidium Stuttgart mit der "Prüfung und Abwicklung der Ansprüche" beauftragt worden.

11 von 19 Anträgen abgearbeitet

Dort sind insgesamt 19 Entschädigungsanträge zum 30. 9. 2010 gestellt worden, darunter auch Anträge von Krankenkassen. Eine überraschend niedrige Zahl angesichts mehrerer Hundert Verletzter. Erstaunlich auch, dass sich nach Angaben der Polizei nur sechs Anträge auf Verletzungen durch Pfefferspray beziehen, dagegen zwölf auf Schäden durch Wasserwerfereinsätze sowie einer auf Verletzungen durch Wasserwerfer und Pfefferspray.

Immerhin hat das Polizeipräsidium inzwischen elf Anträge abgearbeitet und dabei nach eigener Einschätzung "den materiellen und immateriellen Schaden" ersetzt. Sehr erstaunlich ist der Umstand, dass offenbar nahezu keine Krankenkassen oder Versicherungen, die Leistungen an Verletzte erbracht hatten, Regress beim Land nehmen wollen. Alles in allem sind dies für das Land bislang sehr überschaubare finanzielle Ausgleichszahlungen.

Zu den noch nicht beschiedenen Anträgen teilt das Polizeipräsidium mit, es handle sich um diejenigen der Kläger der Fortsetzungsfeststellungsklagen beim Verwaltungsgericht und dreier damit verbundener Krankenkassen. Obwohl auch diese Kläger mit Schreiben vom 1. 2. 2016 gebeten worden seien, ihre Forderungen zu beziffern und entsprechende Nachweise und Belege einzureichen, seien Forderungen erst zwischen März und Juli 2016 eingegangen. 

Mit der Prüfung dieser Ansprüche hat das Land eine Anwaltskanzlei beauftragt, freilich erst, als alle Entschädigungsanträge vorlagen. Deswegen dauere die Angelegenheit noch an. Ein Rechtsanwalt der Klägerseite hatte vorgeschlagen, das Land möge vorab eine Abschlagszahlung leisten, da sein schwer verletzter Mandant bislang keinerlei Entschädigung erhalten habe. Dies sei jedoch mit der Begründung abgelehnt worden, das sei haushaltsrechtlich nicht möglich. Ob angesichts Kretschmanns Versprechen eine derartige Zahlung nicht vorläufig aus dem Fonds, der dem Ministerpräsidenten zur Verfügung steht, hätte erbracht werden können, ist dem Rechtsanwalt nicht bekannt. Und so wartet auch der zur Symbolfigur gewordene, durch einen Wasserstoß nahezu blind geschossene Dietrich Wagner nach bald sechs Jahren seines Leidens noch immer auf den ersten Cent.

Staatsanwaltschaft Stuttgart liest mit

Nicht genug damit, dass Volker Klenk seinen Hinweis auf die erlittenen psychischen Beeinträchtigungen bei der Festsetzung des Schmerzensgeldes nicht berücksichtigt sieht. Er hält auch die ihm zugegangene Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart für wenig hilfreich. Er hatte am Schwarzen Donnerstag – wie die Staatsanwaltschaft zutreffend mitteilt – "offenbar lediglich friedlich in der zweiten Reihe der Demonstrationsteilnehmer gestanden". Dabei hatte ein vermummter Polizeibeamter Pfefferspray in die Menge gesprüht und Klenk dadurch verletzt (<link http: www.kontextwochenzeitung.de politik wo-bleibt-das-schmerzensgeld-3504.html _blank external-link>Kontext berichtete). Ein früheres Verfahren wegen seiner Verletzung war von der Staatsanwaltschaft Stuttgart gar nicht erst eingeleitet worden, weil keine Ermittlungsansätze bestanden hätten, die eine Identifizierung des Polizeibeamten hätten ermöglichen können. Hinweise Klenks auf ein in dem Buch des Bürgertribunals zum 30. 9. 2010 erschienenes Foto, das die Szene des widerrechtlichen Pfeffersprayeinsatzes zeigt, waren damals unbeachtet geblieben.

Erfreulich, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart äußerst zeitnah Berichte der Kontext:Wochenzeitung auswertet. Denn, wie sie Klenk in ihrer jetzigen Verfügung mitteilte, sei im Hinblick auf den Beitrag vom 9. 3. 2016 mit dem Titel "Wo bleibt das Schmerzensgeld?" von Amts wegen am 10. 3. 2016 ein Verfahren eingeleitet worden. Es sei geprüft worden, ob nunmehr ein Ermittlungsansatz vorhanden sei, der eine Identifizierung des Polizeibeamten und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen eine namentlich bekannte Person ermögliche. Auch habe der Anzeigeerstatter unter Hinweis auf das von der Kontext:Wochenzeitung veröffentlichte Foto die Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens beantragt.

Nach unserer Veröffentlichung blieb die Staatsanwaltschaft nicht untätig, sondern forderte – wie jetzt ausgeführt wird – das Originallichtbild des Fotografen Jens Volle an. Bei der Auswertung habe festgestellt werden können, dass es sich um einen Beamten der BFE Böblingen (Beweis- und Festnahmeeinheit) handle. "Näheres lässt sich trotz der guten Fotoqualität nicht bestimmen, weil von dem Polizeibeamten nur die Augenpartie zu sehen ist und auf seiner Körperschutzausstattung keine taktischen Abzeichen ersichtlich sind." Auch ein Abgleich mit dem polizeilichen Videomaterial habe keine weiteren Erkenntnisse ergeben. Eine Befragung der damaligen beiden Führer der entsprechenden BFE-Einheiten habe schließlich ergeben, dass diese anhand des Lichtbilds weder den betreffenden Beamten noch die daneben stehenden Einsatzkräfte zu identifizieren vermochten. Weitere Ermittlungsansätze zur Identifizierung des Polizeibeamten seien nicht ersichtlich.

Die Kennzeichnungspflicht für Polizisten ist vergessen

Volker Klenk findet den Umstand, dass die Einheitsführer ihre Untergebenen angeblich nicht erkennen konnten, wenig verwunderlich. Diesen Beamten mag jedoch zugute gehalten werden, dass auch andere Zeugen an Erinnerungslücken zum Polizeieinsatz leiden. So sei an Oberstaatsanwalt a. D. Bernhard Häußler erinnert, der bei seiner Zeugenaussage im Wasserwerferprozess des Landgerichts Stuttgart vergessen hatte, dass am schwarzen Donnerstag Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren durch Pfefferspray verletzt worden waren und er selbst den Fall eines durch Pfefferspray verletzten 13-jährigen Mädchens bearbeitet hatte (<link http: www.kontextwochenzeitung.de politik haeussler-und-die-unwahrheit-3706.html _blank external-link>Kontext berichtete). Und auch der damalige Innenminister Reinhold Gall hatte bei einer Wahlkampfveranstaltung in Winnenden vor der Bundestagswahl 2013 auf Nachfrage ausdrücklich erklärt, es gebe keinen einzigen Fall, bei dem wegen Übergriffen beim Schlossgarteneinsatz beschuldigte Polizeibeamte nicht hätten ermittelt werden können.

Die von der damaligen grün-roten Landesregierung im Koalitionsvertrag versprochene Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte war von Gall nicht eingeführt worden. Und im grün-schwarzen Koalitionsvertrag des Jahres 2016 kommt sie gar nicht mehr vor. Erstaunlich angesichts des Umstandes, dass der "United Nations Special Rapporteur" (Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen) in seinem Menschenrechtsbericht vom 29. 1. 2016 die Republik Südkorea gerügt hatte, weil die bei Demonstrationen eingesetzten Polizeibeamten nicht gekennzeichnet seien. Die südkoreanischen Behörden hätten, so der Bericht, zugesichert, dass diese "Anomalie" alsbald korrigiert werde. Merkwürdig, dass die Vereinten Nationen bislang keinen Anlass gesehen haben, einen Sonderberichterstatter nach Baden-Württemberg zu entsenden. Im Fall von Südkorea hatte der übrigens auch Wasserwerfereinsätze gegen friedliche Demonstranten für bedenklich erklärt (<link http: www.kontextwochenzeitung.de ueberm-kesselrand mahnwache-in-seoul-3771.html _blank external-link>Kontext berichtete), da die Gefahr schwerer Verletzungen bestehe.

Info:

Opfer des Schlossgarten-Einsatzes, die vom Land Baden-Württemberg entschädigt werden wollen, müssen ihre Ansprüche geltend machen beim Polizeipräsidium Stuttgart, Referat Recht und Datenschutz, Hahnemannstraße 1, in 70191 Stuttgart. Selbstverständlich müssen derartige Ansprüche belegt werden, etwa durch ärztliche Atteste über Verletzungen, aber auch durch Hinweis auf deswegen durchgeführte Ermittlungsverfahren oder Benennung von Zeugen zu Verletzungen oder anderen Schäden.


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22 Kommentare verfügbar

  • Bruno Bienzle
    am 31.07.2016
    Antworten
    MP Kretschmann und den nachgeordneten Verfahrensbeteiligten an diesem unsäglichen Ablasshandel müsste es die Schamröte ins Gesicht treiben.
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