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Täuschung und Lüge

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Irren ist menschlich: Der Wirtschaftswissenschaftler Werner Rothengatter entdeckte systematische Täuschungen bei Großprojekten, gutachtete dann selbst nach unten und ist jetzt überrascht, dass Stuttgart 21 noch teurer geworden ist.

Warum werden Großprojekte eigentlich immer so viel teurer und erfüllen die in sie gesetzten Hoffnungen nicht? "Dass Täuschung und Lüge als Taktik angewandt werden, um ein Projekt in Gang zu bringen, scheint am besten zu erklären, warum bei Infrastrukturprojekten die Kosten in hohem Maße und systematisch unterschätzt und Nutzeneffekte überschätzt werden." Ein Satz, den man eigentlich auf einer Montagsdemo gegen Stuttgart 21 erwarten könnte, einer, der den beliebten Ruf vom "Lügenpack" zu bestätigen scheint, mag er auch weniger rustikal klingen.

Es ist aber kein Satz aus einer Demorede, sondern aus einem wissenschaftlichen Buch: "Megaprojects and Risk", 2003 von dem dänischen Stadtplaner Bent Flyvbjerg, dem schwedischen Wirtschafts- und Verkehrswissenschaftler Nils Bruzelius und dem Karlsruher Wirtschaftswissenschaftler Werner Rothengatter veröffentlicht. Die drei Autoren weisen anhand zahlreicher Beispiele, darunter dem Eurotunnel unter dem Ärmelkanal und der Öresund-Brücke, detailliert nach, wie Förderer und Betreiber von Großprojekten stets systematisch Mandatsträger, Öffentlichkeit und Medien falsch informieren, um Zustimmung zu erlangen und ein Projekt in Gang zu bekommen.

Die Erkenntnisse lesen sich teils wie eine Beschreibung der bisherigen Entwicklung von Stuttgart 21. Auch wenn sie aus heutiger Sicht wenig überraschen, so frappiert doch, wie präzise die Autoren die immer wiederkehrenden Mechanismen offenlegen. Täuschung und Lüge seien keine Ausnahmen, sondern gängige Muster in diesem Bereich, so die Autoren. Bei der Entscheidungsfindung herrsche ein eklatanter Mangel an Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit, kurz, ein "Demokratiedefizit". Zwei ihrer Schlussfolgerungen: "Traue keinen Kostenschätzungen", und "traue keinen Verkehrsprognosen, besonders nicht solchen für Bahnverkehr".

S 21 als Paradebeispiel systematischer Fehlprognosen

Nun sind die Kostenentwicklungen bei Stuttgart 21 bekannt, die wundersame Entwicklung der Prognosen für den Bahnverkehr, konkret, die versprochenen Kapazitätssteigerungen des Tiefbahnhofs ebenso: Anfangs in den 1990er sollte der neue Bahnhof doppelt so viele Züge wie der alte abfertigen können, rund zehn Jahre später waren es noch 50 Prozent, ehe beim so genannten Stresstest im Juli 2011 der geplanten Station dann eine um 30 Prozent höhere Kapazität bescheinigt wurde. Ein Ergebnis, das aber schon bei der Präsentation in mehrfacher Hinsicht Zweifel aufwarf (siehe unter anderem die Kontext-Artikel "<link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft bissle-friede-1484.html internal-link-new-window>Bissle Friede" und "<link http: www.kontextwochenzeitung.de politik was-vom-spruche-uebrig-blieb-3216.html internal-link-new-window>Was vom Spruche blieb").

Pikant an dieser Stelle ist, dass ausgerechnet der mittlerweile emeritierte Karlsruher Wirtschaftswissenschaftler Rothengatter auch Mitautor des 2009 veröffentlichten Gutachtens "Volkswirtschaftliche Bewertung des Projekts Baden-Württemberg 21" ist ("Baden-Württemberg 21" nannte man damals kurz die Kombination von S 21 und der Neubaustrecke Stuttgart–Ulm). Unter den Koautoren ist auch Ullrich Martin, Direktor des Verkehrswissenschaftlichen Instituts der Uni Stuttgart und in dieser Funktion Nachfolger des "S-21-Erfinders" Gerhard Heimerl.

In dem 2009 veröffentlichten Gutachten werden noch Projektkosten von 3,1 Milliarden Euro genannt. Schon kurz nach dem Erscheinen entpuppten sie sich als eine ebensolche systematische Kostenunterschätzung, die Rothengatter und seine Koautoren 2003 scharf kritisiert hatten. Hatte der Karlsruher für das Gutachten die Erkenntnisse der von ihm mit verfassten "Megaprojects"-Studie also außen vor gelassen, sich für eine Täuschung einspannen lassen?

"100 Prozent Steigerung konnten wir uns nicht vorstellen"

Tatsächlich seien die Erkenntnisse aus "Megaprojects" in dem Gutachten durchaus mit einbezogen worden, so Rothengatter, allerdings seien die Kostensteigerungen auf Dauer doch eklatant höher gewesen als angenommen. "Die Zahlen zu Baukosten und Bauzeiten kamen vom damaligen Innenministerium, das auch für den Verkehr zuständig war", erklärt Rothengatter. "Wir haben intern aber unterstellt, dass die Kosten zu gering geschätzt sind, und haben mit einer Erhöhung von 50 Prozent gerechnet." Das habe etwa dem Durchschnitt vergleichbarer Projekte aus "Megaprojects and Risk" entsprochen. "Aus unserer Sicht hätte sich das Projekt auch bei einer 50-prozentigen Kostensteigerung immer noch volkswirtschaftlich gerechnet." Der Puffer schien ausreichend, "deswegen waren wir uns unserer Sache da ziemlich sicher", so Rothengatter. "Wir haben uns damals allerdings nicht vorstellen können, dass es mehr als 100 Prozent Steigerung werden." Seit 2013 ist das der Fall, da liegt der Finanzrahmen des Projekts bei 6,5 Milliarden Euro, das Ende der Fahnenstange scheint längst nicht erreicht.

14 Jahre lang war Rothengatter auch Mitglied im Beirat der Bahn AG, in diesem Jahr ist er ausgeschieden. Er steht Stuttgart 21 immer noch prinzipiell positiv gegenüber, auch wenn er die "unangemessene Geheimhaltung" der Kostensteigerungen und das Projektmanagement vor allem in den ersten Jahren scharf kritisiert. Etwa, dass man das Projekt begonnen habe, ohne Alternativen zu prüfen und ohne sich genau zu überlegen, was für einen Betrieb man da realisieren kann – "das ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit". Und "ein ganz dolles Ding" sei auch die anfängliche Argumentation der Stadt Stuttgart gewesen, die Hälfte des Projekts durch die Verkäufe der frei werdenden Gleisflächen zu finanzieren.

Letztlich hat sich aber auch Rothengatter täuschen lassen. "Man hat immer gedacht, die Bahn hat ja vernünftige Manager, das sind ja keine Dummköpfe", sagt der emeritierte Ökonom. Auch dem Infrastrukturvorstand Volker Kefer habe er vertraut, bei Kostenfragen sei der für ihn immer sehr überzeugend aufgetreten. Mittlerweile wagt er keine Prognose mehr, wie teuer das Projekt noch werden wird. "Es kommt mehr und mehr die Erkenntnis, dass es bei Stuttgart 21 auch nicht anders ist als bei anderen Großprojekten."

Sein ehemaliger Mitautor Bent Flyvbjerg scheint da von vornherein kategorischer: "Die meisten Projektmanager sind Dummköpfe oder Lügner", sagte der schon <link http: www.spiegel.de wirtschaft bent-flyvbjerg-prognostiziert-kostensteigerungen-von-grossprojekten-a-876610.html external-link-new-window>2013 in einem Interview auf "Spiegel online".


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16 Kommentare verfügbar

  • Barolo
    am 21.06.2016
    Antworten
    Da sagt ein Professor aus der Ökonomie: Ich nehme das, was die Bahn sagt und schlage wegen Lügenverdachts den durchschnittlichen Lügenfaktor drauf.
    Das geb ich als Prognose dann ab.
    Was für eine unglaubliche wissenschaftliche Leistung. Ich bin beeindruckt und akzeptiere nun die Leute, welche den…
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