Sicher jedenfalls ist, dass die Vagheit von Paragraf 8, Absatz 4, Probleme bereitete, sobald sich die Kostensteigerungen materialisierten. Erst 2013 (auf 6,5 Milliarden Euro), dann 2017 (8,2 Milliarden) und schließlich 2022 auf 9,8 Milliarden. Auch hier droht wieder Verwirrungspotenzial: Der "Gesamtwertumfang" (GWU) des Projekts, von dem Bahn-Anwalt Ulrich Quack in der Verhandlung immer spricht, beträgt nur 9,15 Milliarden. Die 9,8 Milliarden ergeben sich aus einem zusätzlichen Risikopuffer von 640 Millionen Euro, der offenbar noch nicht angerührt wurde. Dass dem nicht so bleiben dürfte, ist angesichts der bisherigen Projektentwicklung eine nicht allzu gewagte Spekulation.
Tatsächlich habe es im Januar 2015 ein erstes Sprechklausel-Gespräch zwischen den Projektpartnern gegeben, wie Richter Kern erläutert. Dabei sei aber nur darüber gesprochen worden, "wie die Sprechklausel zu verstehen ist". Einigkeit wurde nicht erzielt. "Die einen meinen, dass aus der Sprechklausel eine Fortschreibung der Nachfinanzierung folge, die anderen meinen das nicht", resümiert Kern. Deswegen reichten die einen, also die Bahn, 2016 Klage ein, und deswegen sitzt man jetzt hier.
Die Bahn muss erst ihre Anträge umarbeiten
Allein 76 Klage-Anträge hat die Bahn eingereicht, was auch daran liegt, dass sie an jeden einzelnen Projektpartner analoge Forderungen richtet. Im Grunde zielen alle ihre Anträge darauf ab, den Finanzierungsvertrag anzupassen, Paragraf 8, Absatz 3 zu ergänzen. Dahingehend, dass eine Übernahme der über 4,5 Milliarden Euro hinausgehenden Mehrkosten beziffert und aufgeteilt wird.
In den 76 Anträgen würden sehr viele verschiedene Rechtsprobleme aufgeworfen, sagt Kern, deswegen würde er das Verfahren gerne vereinfachen und beschleunigen. Und er möchte dafür auch Neuland betreten und eine Regelung anwenden, die "ich in den letzten 32 Jahren am Verwaltungsgericht noch nie in Anspruch genommen habe": Paragraf 111 der Verwaltungsgerichtsordnung, der eine Aufteilung des Verfahrens ermöglicht: In einem Zwischenurteil könnte erst über die Anspruchsgründe entschieden werden, "ob ein Anspruch dem Grunde nach besteht", ehe in einem zweiten Schritt dann über die Kostenanteile entschieden werden würde. Doch daraus wird wohl nichts. Während Bahn-Anwalt Quack so ein Vorgehen für zulässig erachtet, hält Landesanwalt Berger die Anträge der Bahn "nicht für geeignet, hier ein Grundurteil zu erlassen".
In der Folge werden an diesem ersten Sitzungstag erstmal die Anträge der Bahn zu Forderungen an das Land durchgegangen. Und immer wieder wird deutlich: die sind ziemlich harter Tobak. Was die Verständlichkeit angeht. "Ich habe diesen Antrag immer wieder gelesen. Ich habe ihn nicht verstanden", sagt Kern einmal, ein andermal erklärt er, von einer Regelung, auf die Quack verweist, noch nie gehört zu haben. Die einzelnen Punkte komplett nachzuvollziehen, ist für juristische Laien nahezu unmöglich, das Durcharbeiten des Forderungskatalogs und die darin enthaltenen Formulierungen wirken zunehmend kafkaesk. Doch am Ende steht die Erkenntnis, dass die Anträge der Bahn wohl in vielen Punkten zu ungenau sind. Weswegen das Gericht die Bahn-Anwälte dazu verdonnert, die Anträge umzuarbeiten, zu ergänzen und zu präzisieren – wodurch sich ihre Menge nach Zählung des Gerichts von 76 auf 102 erhöhen werde. Zwei Wochen bekommt die Bahn dafür Zeit, dann müssen die Beklagten wiederum Stellung dazu nehmen, dann erst wird es einen nächsten Verhandlungstermin geben. Die Beteiligten einigen sich nach einigem hin und her auf den 1. August. Fast drei Monate. "Von der Vorstellung, dass wir zeitnah eine Entscheidung fällen, können wir jetzt langsam Abstand nehmen", hat Kern schon früher in der Verhandlung gesagt. Die Chose ist zu komplex.
Nur eines ist sicher: Der Steuerzahler zahlt
Dabei hatte der Richter schon am Anfang betont, dass es im Interesse aller, auch des Gerichts sei, zu einer schnellen Entscheidung zu kommen. Auch, "weil wir nicht davon ausgehen, dass es bei unserer Entscheidung bleiben wird", sagt Kern. Was bedeutet: Der jeweils Unterlegene wird in Berufung in die nächsthöhere Instanz gehen – das ist in diesem Fall der Verwaltungsgerichtshof Mannheim. Es ist also von Jahren auszugehen. Ob es am Ende ein Kopf-an-Kopf-Rennen gibt zwischen der baulichen Fertigstellung des S-21-Tiefbahnhofs und der Regelung seiner Finanzierung? Abwarten.
Gerade dieser Aspekt ist es auch, der die Gegner von Stuttgart 21 empört. "Die Streitparteien verlieren sich in juristischen Spiegelfechtereien und agieren genauso chaotisch wie beim Projekt selbst", sagt Aktionsbündnis-Sprecher Dieter Reichter. Dabei gleiche "ein Weiterbau ohne gesicherte Finanzierung politischem und haushalterischem Harakiri". Der erste Prozesstag hat für Reicherter die "kollektive Verantwortungslosigkeit der Beteiligten" gezeigt: Jeglicher Wille zu einvernehmlicher Lösung fehle, die hoch verschuldete Bahn baue auf eigenes Risiko, während die Projektpartner sich "mit der Ansage 'mir gäbbet nix' aus der Verantwortung stehlen" wollen, obwohl sie immer alles mitgemacht hätten.
9 Kommentare verfügbar
Baza
am 10.05.2023Investigativ und eine offene Fehlerkultur - es gibt noch Hoffnung für den Journalismus.
Bitte so weiter machen.