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Klage zu S-21-Mehrkosten

Das Schwarze Loch

Klage zu S-21-Mehrkosten: Das Schwarze Loch
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Wer soll die noch ungedeckten Mehrkosten bei Stuttgart 21 zahlen? Vor sechseinhalb Jahren hat die Bahn AG die S-21-Projektpartner Land, Stadt, Region und Flughafen zur Kostenübernahme verklagt. Nun war endlich der erste Termin vorm Verwaltungsgericht. Der wenig Hoffnung auf eine schnelle Klärung macht.

Wolfgang Kern hat in seinen gut 32 Jahren am Verwaltungsgericht Stuttgart vermutlich schon vieles erlebt und gesehen. Als "Schreck der Diesel-Industrie" (Handelsblatt) erlangte der Richter sogar eine gewisse Popularität, weil er 2017 Fahrverboten für Diesel-Fahrzeuge den Weg ebnete (Kontext berichtete). Doch die Feinheiten der Finanzierung von Stuttgart 21 und der Kommunikation darüber zwischen den sogenannten Projektpartnern fordern auch den 66-jährigen Kern heraus. "Ach du Schande, ist das so kompliziert", entfährt es ihm, als Rechtsanwalt Henning Berger erläutert, wie ein Protokoll des S-21-Lenkungskreises zu verstehen sei.

Kern war irrigerweise davon ausgegangen, dass in dem Protokoll die Zustimmung des Landes Baden-Württemberg zu Kostensteigerungen des Projekts dokumentiert sei. Doch Berger, der das Land juristisch vertritt, stellt klar: Zwar sei vermerkt, dass einer Beschlussvorlage zu den Kostensteigerungen zugestimmt worden sei. Aber in dieser Beschlussvorlage stehe nur, dass die Projektpartner die Kostensteigerungen "zur Kenntnis nehmen". Nicht etwa ihnen zustimmen. Ein entscheidender Unterschied. Bestünde der nicht, gäbe es möglicherweise dieses Verfahren gar nicht. Oder es wäre zumindest deutlicher schneller beendet.

Kern verzichtet auf Vortrag der Akten: sind zu viele

Ziemlich stickig ist es am Montag, dem 8. Mai im Sitzungssaal 5 des Verwaltungsgerichts Stuttgart in der Augustenstraße, obwohl er nicht mal ganz voll ist. Dabei sind allein Kläger (Deutsche Bahn AG und einige ihrer Tochterunternehmen) und Beklagte (Land Baden-Württemberg, Stadt Stuttgart, Verband Region Stuttgart, Flughafen Stuttgart GmbH) mit 23 Personen – Anwälte und Vorstände, Referenten etc. – und die Presse mit gut einem Dutzend vertreten. Doch die Stuhlreihen für die "normalen" Besucher bleiben erstaunlich licht. Nur gut 20 sind es, einige vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, darunter dessen Geschäftsführer Werner Sauerborn und Sprecher Dieter Reicherter. Erstaunlich eigentlich, denn es ist ein denkwürdiger Termin: Knapp sechseinhalb Jahre, nachdem die Bahn im Dezember 2016 Klage gegen ihre S-21-Projektpartner eingereicht hat, sich an den Mehrkosten des Projekts zu beteiligen, ist nun endlich der erste Verhandlungstermin. Wie das Verfahren ausgehen könnte, ist völlig unklar. "Das ist auch für uns ein schwarzes Loch", sagt Edgar Neumann, Sprecher des baden-württembergischen Verkehrsministeriums, nach einer Prognose befragt.

Der Streitwert ist vom Gericht "vorläufig" auf 30 Millionen Euro festgelegt worden, das Maximum bei einem juristischen Verfahren. Ein Mammutprozess ist zu erwarten, das legt allein schon der Umfang der Vorbereitungen nahe: 3.500 Seiten machen alleine die Schriftsätze der Klägerin und der Beklagten aus, dazu kommen 18.000 Behördenakten. Es sei bei Verfahren normalerweise üblich, erst den Inhalt der Akten vorzutragen, sagt Kern, doch dieses Mal wolle er vorschlagen, "auf den Vortrag der Akten zu verzichten". Heiterkeit im Saal, alle sind einverstanden. Diesmal. Seine feine Ironie wird der schlaksige Richter mit den weißen Locken noch einige Male brauchen.

Bei der Frage, wie und warum es überhaupt zu diesem Verfahren kam und worum es geht, stellt sich sogleich die Frage: Wo anfangen? Darum in aller Kürze: Im April 2009 schloss die Bahn mit den Projektpartnern einen Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21, in dem die Aufteilung der Kosten haarklein geregelt war – aber nur bis zu Projektkosten von 4,5 Milliarden Euro. Als der Vertrag unterzeichnet wurde, kalkulierte man noch mit rund 3 Milliarden Euro Kosten, plus einem Risikotopf von rund 1,5 Milliarden. Wer von den Beteiligten wie viel genau in diesen Topf zahlen sollte, war in Paragraf 8, Absatz 3 des Vertrags genau festgehalten. Zusammengerechnet: Das Land beteiligt sich inklusive Risikopuffer mit maximal 930 Millionen Euro, die Stadt mit 292, die Region mit 100 und der Flughafen mit 227 Millionen.

Was aber, wenn der Risikotopf nicht reicht? Diesem Fall widmet sich Absatz 4: "Im Falle weiterer Kostensteigerungen nehmen die EIU (Eisenbahnunternehmen, also DB AG und Töchter, d. Red.) und das Land Gespräche auf." Als "Sprechklausel" erlangte dieser Absatz eine gewisse Bekanntheit.

Bisher hat die Politik eifrig Geld zugeschossen

Warum nur das Land erwähnt ist, liegt womöglich daran, dass das Land im Vertrag implizit als Bevollmächtigter der Interessen der anderen Partner behandelt wird ("Das Land handelt dabei auch in Vertretung seiner Partner und des Flughafens" heißt es an einer Stelle). Warum der Absatz aber so denkbar vage formuliert wurde, bleibt das Geheimnis der Beteiligten. Vielleicht, weil es schon schwierig genug war, die Finanzierungsanteile bis 4,5 Milliarden zu regeln. Vielleicht, "weil man besoffen vor Glück war", wie der frühere Richter und Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, Dieter Reicherter, mutmaßt.

Vielleicht aber auch, weil es die Jahre zuvor immer wieder so war, dass die Politik – ob Land oder Stadt – eifrig Geld zuschoss, um die wegen der Kostenrisiken nur mäßig motivierte Bahn zur Umsetzung von S 21 zu bewegen. Und wäre, wie seit 1953 ununterbrochen, die CDU auch weiterhin an der Regierung und darin stärkste Partei geblieben, wäre das womöglich auch noch lange so weitergelaufen. Doch dann kam 2011 der unvorhergesehene – und noch andauernde – Betriebsunfall einer Landesregierung unter grüner Führung. Und für die Grünen war und ist der Kostendeckel beim Finanzierungsanteil gewissermaßen das letzte Überbleibsel des Widerstands gegen S 21, das sie sich aus der Oppositions- in die Regierungszeit hinübergerettet haben und schon 2011 in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD festschrieben.

Dass bei der Volksabstimmung im November 2011 über exakt diesen Finanzierungsanteil abgestimmt wurde und überdies veranschlagte Projektkosten von 4,5 Milliarden die Grundlage waren, könnte auch als weitere Legitimation für das Beharren des Landes auf den Kostendeckel gesehen werden. Im Übrigen auch, weil die Gesamtkosten ja gestiegen sind, als Legitimation, aus dem Vertrag mit der Bahn ganz auszusteigen, wie der Jurist Joachim Wieland schon 2012 in Kontext darlegte.

Sicher jedenfalls ist, dass die Vagheit von Paragraf 8, Absatz 4, Probleme bereitete, sobald sich die Kostensteigerungen materialisierten. Erst 2013 (auf 6,5 Milliarden Euro), dann 2017 (8,2 Milliarden) und schließlich 2022 auf 9,8 Milliarden. Auch hier droht wieder Verwirrungspotenzial: Der "Gesamtwertumfang" (GWU) des Projekts, von dem Bahn-Anwalt Ulrich Quack in der Verhandlung immer spricht, beträgt nur 9,15 Milliarden. Die 9,8 Milliarden ergeben sich aus einem zusätzlichen Risikopuffer von 640 Millionen Euro, der offenbar noch nicht angerührt wurde. Dass dem nicht so bleiben dürfte, ist angesichts der bisherigen Projektentwicklung eine nicht allzu gewagte Spekulation.

Tatsächlich habe es im Januar 2015 ein erstes Sprechklausel-Gespräch zwischen den Projektpartnern gegeben, wie Richter Kern erläutert. Dabei sei aber nur darüber gesprochen worden, "wie die Sprechklausel zu verstehen ist". Einigkeit wurde nicht erzielt. "Die einen meinen, dass aus der Sprechklausel eine Fortschreibung der Nachfinanzierung folge, die anderen meinen das nicht", resümiert Kern. Deswegen reichten die einen, also die Bahn, 2016 Klage ein, und deswegen sitzt man jetzt hier.

Die Bahn muss erst ihre Anträge umarbeiten

Allein 76 Klage-Anträge hat die Bahn eingereicht, was auch daran liegt, dass sie an jeden einzelnen Projektpartner analoge Forderungen richtet. Im Grunde zielen alle ihre Anträge darauf ab, den Finanzierungsvertrag anzupassen, Paragraf 8, Absatz 3 zu ergänzen. Dahingehend, dass eine Übernahme der über 4,5 Milliarden Euro hinausgehenden Mehrkosten beziffert und aufgeteilt wird.

In den 76 Anträgen würden sehr viele verschiedene Rechtsprobleme aufgeworfen, sagt Kern, deswegen würde er das Verfahren gerne vereinfachen und beschleunigen. Und er möchte dafür auch Neuland betreten und eine Regelung anwenden, die "ich in den letzten 32 Jahren am Verwaltungsgericht noch nie in Anspruch genommen habe": Paragraf 111 der Verwaltungsgerichtsordnung, der eine Aufteilung des Verfahrens ermöglicht: In einem Zwischenurteil könnte erst über die Anspruchsgründe entschieden werden, "ob ein Anspruch dem Grunde nach besteht", ehe in einem zweiten Schritt dann über die Kostenanteile entschieden werden würde. Doch daraus wird wohl nichts. Während Bahn-Anwalt Quack so ein Vorgehen für zulässig erachtet, hält Landesanwalt Berger die Anträge der Bahn "nicht für geeignet, hier ein Grundurteil zu erlassen".

In der Folge werden an diesem ersten Sitzungstag erstmal die Anträge der Bahn zu Forderungen an das Land durchgegangen. Und immer wieder wird deutlich: die sind ziemlich harter Tobak. Was die Verständlichkeit angeht. "Ich habe diesen Antrag immer wieder gelesen. Ich habe ihn nicht verstanden", sagt Kern einmal, ein andermal erklärt er, von einer Regelung, auf die Quack verweist, noch nie gehört zu haben. Die einzelnen Punkte komplett nachzuvollziehen, ist für juristische Laien nahezu unmöglich, das Durcharbeiten des Forderungskatalogs und die darin enthaltenen Formulierungen wirken zunehmend kafkaesk. Doch am Ende steht die Erkenntnis, dass die Anträge der Bahn wohl in vielen Punkten zu ungenau sind. Weswegen das Gericht die Bahn-Anwälte dazu verdonnert, die Anträge umzuarbeiten, zu ergänzen und zu präzisieren – wodurch sich ihre Menge nach Zählung des Gerichts von 76 auf 102 erhöhen werde. Zwei Wochen bekommt die Bahn dafür Zeit, dann müssen die Beklagten wiederum Stellung dazu nehmen, dann erst wird es einen nächsten Verhandlungstermin geben. Die Beteiligten einigen sich nach einigem hin und her auf den 1. August. Fast drei Monate. "Von der Vorstellung, dass wir zeitnah eine Entscheidung fällen, können wir jetzt langsam Abstand nehmen", hat Kern schon früher in der Verhandlung gesagt. Die Chose ist zu komplex.

Nur eines ist sicher: Der Steuerzahler zahlt

Dabei hatte der Richter schon am Anfang betont, dass es im Interesse aller, auch des Gerichts sei, zu einer schnellen Entscheidung zu kommen. Auch, "weil wir nicht davon ausgehen, dass es bei unserer Entscheidung bleiben wird", sagt Kern. Was bedeutet: Der jeweils Unterlegene wird in Berufung in die nächsthöhere Instanz gehen – das ist in diesem Fall der Verwaltungsgerichtshof Mannheim. Es ist also von Jahren auszugehen. Ob es am Ende ein Kopf-an-Kopf-Rennen gibt zwischen der baulichen Fertigstellung des S-21-Tiefbahnhofs und der Regelung seiner Finanzierung? Abwarten.

Gerade dieser Aspekt ist es auch, der die Gegner von Stuttgart 21 empört. "Die Streitparteien verlieren sich in juristischen Spiegelfechtereien und agieren genauso chaotisch wie beim Projekt selbst", sagt Aktionsbündnis-Sprecher Dieter Reichter. Dabei gleiche "ein Weiterbau ohne gesicherte Finanzierung politischem und haushalterischem Harakiri". Der erste Prozesstag hat für Reicherter die "kollektive Verantwortungslosigkeit der Beteiligten" gezeigt: Jeglicher Wille zu einvernehmlicher Lösung fehle, die hoch verschuldete Bahn baue auf eigenes Risiko, während die Projektpartner sich "mit der Ansage 'mir gäbbet nix' aus der Verantwortung stehlen" wollen, obwohl sie immer alles mitgemacht hätten.

Bei der Montagsdemo gegen Stuttgart 21 am 8. Mai ging Aktionsbündnis-Sprecher Dieter Reicherter auch auf das Gerichtsverfahren ein (ab Minute 22:50). Video: Eberhard Linckh

Ein vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 immer wieder vorgebrachter Lösungsvorschlag wurde auch von Richter Kern in der Verhandlung formuliert: "Es gibt bei öffentlichen Verträgen auch die Möglichkeit, einen Vertrag zu kündigen, wenn die Vertragsanpassungen zu unzumutbaren Belastungen für die Beteiligten führen würden." Diesen Aspekt hatte der frühere Aktionsbündnis-Sprecher und Rechtsanwalt Eisenhart von Loeper immer wieder vorgebracht. Sehr wahrscheinlich wirkt diese Lösung allerdings zurzeit nicht.

Was sicher ist: Wie auch immer eine gerichtliche Entscheidung ausgehen wird, ob das Land siegt und die Kosten allein von der Bahn, hinter der ja der Bund steht, getragen werden müssen, ober ob das Land und die anderen Projektpartner daran beteiligt werden, letztlich werden die Steuerzahlenden die Kosten tragen. Womit zumindest dem Grunde nach die Frage "Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?" geklärt wäre.

 

Anm. d. Red.: In einer früheren Fassung des Artikels stand, dass bis zur Landtagswahl 2011 die CDU seit 1952 unnterbrochen an der Regierung und darin stärkste Partei gewesen sei. Tatsächlich war dies erst ab 1953 der Fall. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten, ihn zu entschulidgen.


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9 Kommentare verfügbar

  • Baza
    am 10.05.2023
    Antworten
    Danke für die standhafte Aufklärungsarbeit durch den Kontext!

    Investigativ und eine offene Fehlerkultur - es gibt noch Hoffnung für den Journalismus.
    Bitte so weiter machen.
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