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Stuttgart 21 und Gäubahn

Wider die Wildwest-Manier

Stuttgart 21 und Gäubahn: Wider die Wildwest-Manier
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Ursprünglich wollte die Deutsche Bahn die Gäubahn höchstens sechs Monate wegen Stuttgart 21 von der Landeshauptstadt abkoppeln. Nun könnten es 15 Jahre werden. Gutachten halten das für rechtswidrig, der Landesnaturschutzverband und die Deutsche Umwelthilfe haben sich eingeschaltet.

Über den "juristisch potenten Akteur" freut sich das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, nachdem die Deutsche Umwelthilfe (DUH) angekündigt hat, auf dem Gerichtsweg gegen die Kappung der Gäubahn vorzugehen. Nach ihren bisherigen Planungen will die Deutsche Bahn im Zuge der Bauarbeiten für den neuen Stuttgarter Tiefbahnhof die Verbindung zwischen der Landeshauptstadt und den Anrainer-Gemeinden, darunter sieben große Kreisstädte, vorübergehend stilllegen. Ursprünglich hatte die DB angekündigt, dass die Sperrung auf wenige Monate und höchstens ein halbes Jahr befristet sei. Inzwischen ist klar: Die Unterbrechung wird, sofern an den bisherigen Plänen festgehalten wird, zwischen sechs und 15 Jahre dauern.

Gäubahn und S 21

Die Gäubahn, die momentan noch über die am Rand des Stuttgarter Talkessels geführte Panoramabahn den Hauptbahnhof anfährt, hat im Rahmen der Stuttgart-21-Planungen eine Sonderstellung: Während die übrige, alte Bahninfrastruktur rund um den Stuttgarter Kopfbahnhof auch nach Inbetriebnahme von S 21 eine Zeit lang bestehen bleiben soll, bis der Tiefbahnhof seine Testphase bestanden hat, ist dies bei der Panoramabahn nicht der Fall. Denn ihre Gleise sind der im Zuge von S 21 leicht geänderten S-Bahn-Führung über die neue Haltestelle Mittnachtstraße im Weg. Eine Rampe, über die die Gäubahnzüge jetzt in den Hauptbahnhof kommen, soll deshalb einige Monate vor der S-21-Eröffnung abgerissen werden. Ursprünglich waren für diese Unterbrechung nur vier bis sechs Monate vorgesehen, aber Anfang 2019 wurde eingeräumt, dass wegen Planungsverzögerungen bei der S-21-Gäubahnführung über den Flughafen (Planfeststellungsabschnitt 1.3b) die Unterbrechung eine mehrjährige sein wird.

Mittlerweile ist die alte Planung dieses Abschnitts de facto aufgegeben; stattdessen soll sie durch den rund 11 Kilometer langen Pfaffensteigtunnel ersetzt werden, eine Idee, die Mitte 2020 der damalige Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium Steffen Bilger (CDU) präsentierte. Der Tunnel würde das größte Problem der alten Planung, den extrem verspätungsanfälligen Mischverkehr von Fern- und S-Bahnen, zwar vermeiden, hat aber viele neue: Er wird sehr teuer werden, sein Bau verursacht enorme Treibhausgasemissionen – und der Zeitpunkt seiner Fertigstellung steht in den Sternen.  (os)

Doch womöglich lassen sich die Pläne der Bahn überhaupt nicht realisieren. Nach einem neuen Rechtsgutachten verstößt der Staatskonzern mit der Idee, Züge in Stuttgart-Vaihingen oder an einem noch zu bauenden Nordhalt enden zu lassen, gegen den rechtskräftigen Planfeststellungsbeschluss (Kontext berichtete). Der Landesnaturschutzverband (LNV) will als Dachorganisation aller Umwelt- und Naturschutzverbände Baden-Württembergs zudem eine mündliche Erörterung vor dem Eisenbahnbundesamt (EBA) durchsetzen.

Dreh- und Angelpunkt ist der Pfaffensteigtunnel, den der Volksmund auch Bilgertunnel nennt nach dem ehemaligen Staatssekretär Steffen Bilger (CDU). Der hatte die Anschlussalternative von Böblingen zum Stuttgarter Flughafen ausgedacht. Dank der zweimal elf Kilometer langen Röhren würde Deutschlands längster Bahntunnel entstehen, kompliziert ohne Ende und naturgemäß derzeit noch in den Kinderschuhen der Realisierung steckend. Schon vor fast einem Jahr hatte der LNV beantragt, dass bis zu dessen Fertigstellung mindestens ein Gleis der Gäubahn bis zum Hauptbahnhof erhalten bleibt. Dies sei essenziell "für eine klima- und umweltverträgliche Anbindung des Südens von Baden-Württemberg und aus der Schweiz". Immerhin haben sich inzwischen sogar CDU-Bürgermeister aus Konstanz, Singen oder Tuttlingen der Einschätzung angeschlossen.

"Hier geht es darum, dass eine Aktiengesellschaft klimarelevante Infrastruktur zerstören will, mit der Folge erhöhter verkehrsbedingter Emissionen", heißt es in einem umfangreichen Schriftsatz des LNV, "es wird attraktiver, wieder das Auto zu wählen, wegen schlechterer Bahninfrastruktur." Das EBA müsse dies als Aufsichtsbehörde vermeiden. Unter anderem die Dauer der Unterbrechung wird moniert, und dass die DB noch nicht einmal selber eine zeitliche Obergrenze nennt. "Es könnte also nach Ansicht der Bahn in rechtlich zulässiger Weise statt des angestrebten Fertigstellungsjahrs 2032 für den Pfaffensteigtunnel 2034 oder 2037 werden, bis die Gäubahnunterbrechung beendet ist", heißt es unter anderem. Beschönigend werde Stuttgart-Vaihingen – wo die Gäubahn nach der Kappung anstelle der Stuttgarter Innenstadt enden soll – als "gute Verbindung" mit "großen Vorteilen für Berufspendler:innen" dargestellt. Auch sei der Anteil betroffener Reisenden intransparent: "So entsteht eine unvollständige Entscheidungsgrundlage für das Eisenbahnbundesamt."

Noch gibt es funktionale Gleise

Erst einmal käme gar nicht so viel ins Rutschen, wenn die Verbindung über mindestens ein Gleis an den Tiefbahnhof herangeführt werden würde. "An" und nicht "in": Dafür müssten auf Weiteres mindestens Teile des vorhandenen oberirdischen Kopfbahnhofs erhalten und weiterbetrieben werden. Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) hat bereits darauf hingewiesen, dass es ohnehin mehrere Jahre dauern werde, das Gleisvorfeld abzuräumen, bevor an gleicher Stelle Neubauprojekte verfolgt werden können – "so dass es dem Bürger und Fahrgast schwer vermittelbar sein dürfte, dass zwar weiterhin jahrelang noch Gleise im alten Hauptbahnhof liegen werden, die Züge der Gäubahn die Gleise aber nicht mehr nutzen dürfen und die Fahrgäste weit außerhalb umständlich umsteigen sollen".

Warten auf die Gäubahn – noch kommt sie.

DUH und Aktionsbündnis gehen noch einen großen Schritt weiter. Denn wieder einmal wird auf die von extremer Aufhitzung betroffenen Bürger:innen im Stuttgarter Talkessel verwiesen. Vielleicht von ihm selbst verdrängt, aber anderen durchaus noch in Erinnerung ist Ministerpräsident Winfried Kretschmanns (Grüne) Plädoyer für den Erhalt des Kopfbahnhofs, vorgetragen in der Schlichtung zu S 21 vor nunmehr bald 13 Jahren: "Auch von der Biodiversität her, also der Arten- und Biotopvielfalt, ist Stuttgart 21 kein ökologisches Projekt, sondern ein schwerer Eingriff in den Kernbestand der Ökologie dieser Stadt." Detailliert wurde seinerzeit gerade die Bedeutung der Gleise als "Kühloase" diskutiert – bei einer Versieglung durch intensive Bebauung droht eine Aufhitzung der Umgebung. Bereits im Jahr 2010 war schon vieles publik geworden zum Thema Erderwärmung, nicht aber, dass sie in Baden-Württemberg überdurchschnittlich schnell voranschreitet.

"Ein absolut unbefriedigender Zustand", meint Theurer

Der Richter im Ruhestand und Aktionsbündnis-Sprecher Dieter Reicherter argumentiert außerdem mit der Bürgerbeteiligung. Bei Planung und Durchsetzung des Großprojekts, insbesondere aber bei der Volksabstimmung 2011 über einen Ausstieg des Landes aus der S-21-Finanzierung, sei eine Verbesserung des Bahnverkehrs und ein funktionierender Knoten versprochen worden. "Immer deutlicher wird jetzt, dass das glatte Gegenteil eintritt", moniert er. Und das EBA schaue ungerührt zu, wie Millionen Menschen aus dem südlichen Landesteil, der Schweiz und Italien vom Zugang nach Stuttgart und damit vom europäischen Schienennetz abgeschnitten werden. Gegebenenfalls mit drastischen Mitteln, denn in "Wildwest-Manier", klagt Reicherter, habe die Bahn gedroht, die Strecke durch Prellböcke abzusperren. Demokratiepolitisch besorgniserregend sei, wie sich nicht nur die zur Aufsicht berufene Behörde, sondern ebenso die Politik in Stadt, Land und Bund nicht um die Einhaltung von Recht und Gesetz kümmerten. Zumal sich die Bahn 2018 selber mit den Varianten des Weiterbetriebs befasste.

Unterstellt ist das EBA bekanntlich dem Bundesverkehrsministerium. Das könnte auch von sich aus tätig werden, vor allem, weil Bilgers Nachfolger Michael Theurer (FDP) als früherer Oberbürgermeister der Stadt Horb eigentlich wissen müsste, welche Folgen eine Kappung der Gäubahn hätte. Trotzdem nimmt er sie hin als beschlossene Sache, "auch wenn ein absolut unbefriedigender Zustand für die Menschen entsteht, die südlich von Stuttgart wohnen". Fernzüge beispielsweise könnten während der Bauzeit am Pfaffensteigtunnel – sogar der Liberale geht von einer Fertigstellung nicht vor den "frühen 2030er-Jahren" aus – umständlich über Tübingen und Renningen umgeleitet werden.

Wenn es nach dem LNV geht, ist dieses und vieles andere in der mündlichen Anhörung vor dem EBA zu erörtern. Das allerdings hat erstmal mit einer dürren Mail auf die Einwände reagiert, mit der sich die Zuständigen im Landesnaturschutzverband aber nicht abspeisen lassen werden. Und die DUH setzt auf die eigene juristische Prüfung, nach der "der geplante vorsätzliche Verstoß gegen einen rechtskräftigen Planfeststellungsbeschluss so massiv ist, dass wir diesen über unsere Klage verhindern können und werden". Es dürfe nicht sein, dass "im Jahr 2023 in einer grün-mitregierten Landes- wie Bundesregierung eine leistungsfähige Bahn systematisch verhindert und Automobilpolitik pur betrieben wird, gegen die Schiene und für noch mehr Autoverkehr". Ihre juristische Potenz jedenfalls hat die Deutsche Umwelthilfe schon oft bewiesen, etwa als sie im Dieselskandal sogar die deutsche Autoindustrie in die Schranken wies.


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1 Kommentar verfügbar

  • Gisela Heinzmann
    am 12.05.2023
    Antworten
    Es wär auf jedenfall nicht schlecht, wenn am Bahnhof in Stuttgart- Vaihingen für jeden Fahrgast ein Pferd zur Verfügung stünde.
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