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10 Jahre Volksabstimmung zu Stuttgart 21

Immer weiter ärgern

10 Jahre Volksabstimmung zu Stuttgart 21: Immer weiter ärgern
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Am 27. November 2011 entschied sich in Baden-Württemberg eine Mehrheit der Wählenden gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung von Stuttgart 21. Seitdem wird die Volksabstimmung immer wieder als Legitimation für das Festhalten an dem Projekt bemüht. Oder auch als "Sieg für die Demokratie" gedeutet. Beides überzeugt wenig.

In jenen rückblickend seltsam euphorischen Tagen des Protestsommers gegen Stuttgart 21 im Jahr 2010, da erscheint eine Volksabstimmung über das Projekt noch als Verheißung. Zehntausende demonstrieren auf den Straßen der Landeshauptstadt gegen das Projekt, man fühlt sich in der Mehrheit, und die Demoskopen scheinen dem Recht zu geben: Seit 2008 gibt es keine Umfrage mehr, in der die Befürworter von S 21 die Mehrheit haben, das Pendel scheint zudem immer stärker zugunsten der Obenbleiber auszuschlagen: Laut einer Forsa-Umfrage vom August 2010 sind 67 Prozent der befragten Stuttgarter gegen den Umbau des Bahnhofs, in ganz Baden-Württemberg 51 Prozent der Befragten.

Es ist dann auch ausgerechnet die Landes-SPD, deren Führung S 21 seit jeher befürwortet, deren Basis aber über das Projekt tief gespalten ist, die die Idee vorantreibt. Anfang September 2010 veröffentlicht SPD-Urgestein Erhard Eppler mit vier Mitstreitern einen Aufruf zu einem Volksentscheid über S 21. SPD-Landeschef Nils Schmid greift den Vorschlag schnell auf, als Ziel eines Volksentscheids nennt er: "Die Akzeptanz für Stuttgart 21 noch verstärken."

Als kritisch gilt schon da das extrem hohe Quorum für Volksentscheide, das die Landesverfassung verlangt. 33,33 Prozent aller Stimmberechtigten in Baden-Württemberg müssten für den Ausstieg stimmen, also rund 2,55 Millionen. Deswegen sei "das Instrument der Volksabstimmung in Baden-Württemberg kein echtes Beteiligungsangebot", urteilt damals der Berliner Soziologieprofessor Dieter Rucht.

Obwohl das Problem des Quorums zumindest innerhalb der Protestbewegung gegen S 21 bald weithin bekannt war, werben die Grünen im Landtagswahlkampf auf Plakaten explizit für eine Volksabstimmung. Kretschmann räumt kurz nach der Wahl ein, hier habe man einen "Fehler" gemacht. Nach der Wahl im März 2011 beharrt die SPD auf der Volksabstimmung, sie wird Ende April im Koalitionsvertrag verankert.

Das Land kann nur aus der Finanzierung aussteigen

Probleme gibt es aber nicht nur wegen des Quorums, sondern ganz grundsätzlich wegen der Möglichkeiten, das Projekt zu stoppen. Die sind begrenzt, weil Stuttgart 21 laut Finanzierungsvertrag ein Projekt der Bahn AG ist, an dem neben dem Land auch noch die Stadt Stuttgart, der Verband Region Stuttgart sowie der Stuttgarter Flughafen als Projektpartner finanziell beteiligt sind. Das Land kann daher nur aus der Finanzierung aussteigen, nicht das Projekt eigenmächtig für beendet erklären. Und im September 2011 erklärt die Bahn, auch bei einem Ausstieg des Landes an S 21 festhalten zu wollen – während im Oktober SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel, glühender S-21-Befürworter, verkündet, die Bahn würde bei einem Ausstieg sofort die Bagger von der Baustelle abziehen – das wisse er vom DB-Vorstand.

Foto: Joachim E. Röttgers

Die Politik trägt Mitverantwortung

"Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung entlässt eine Volksabstimmung die Politik zu keinem Zeitpunkt aus der Verantwortung für ein Projekt. Die Politik trägt Mitverantwortung für den Zeitpunkt der Abstimmung, und dieser war bei S21 viel zu spät, so dass Ausstiegskosten von 1,5 Milliarden eine neutrale Bewertung verhinderte. Die Politik trägt Mitverantwortung für die Rahmenbedingungen und die Qualität der Debatte rund um eine Volksabstimmung. Diese Bedingungen waren aufgrund des hohen Quorums unfair, und die Debatte geprägt von einer so unklaren Informationslage, dass nicht mal die Parlamentsparteien sich bei grundlegenden Fragen einig waren. Und ja, die Politik trägt Verantwortung dafür, das Ergebnis einer Abstimmung zu respektieren, aber genauso dafür, angemessen zu handeln, wenn sich die Faktenlage zu einem Projekt stark verändert, was bei S21 der Fall war und ist. Eine zehn Jahre alte Volksabstimmung, deren Faktengrundlage vollkommen überholt ist, hat als Legitimation ausgedient."

Sarah Händel, Geschäftsführerin von Mehr Demokratie Baden-Württemberg

Im Auftrag der SPD-Landtagsfraktion haben schon 2010 die beiden Rechtswissenschaftler Joachim Wieland und Georg Hermes ein Gutachten zu den rechtlichen Möglichkeiten erstellt, auf Grundlage eines Volksentscheids aus dem Finanzierungsvertrag auszusteigen. Die beiden gelten daher auch als Väter der Volksabstimmung zu S 21. Der Weg dorthin erregt dann bei der Opposition im Landtag einigen Unmut: Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) arbeitet ein Kündigungsgesetz aus, das am 21. September 2011 bewusst im Landtag scheitern soll, um den in Artikel 60 der Landesverfassung beschriebenen Fall eintreten zu lassen: "Wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt, kann die Regierung eine von ihr eingebrachte, aber vom Landtag abgelehnte Gesetzesvorlage zur Volksabstimmung bringen." Das geschieht, der Weg zur Abstimmung, die auf den 27. November gesetzt wird, ist frei.

Für verbreitetes Kopfschütteln sorgt dann bald die Formulierung, die die Baden-WürttembergerInnen auf dem Volksabstimmungswahlzettel lesen werden: "Stimmen Sie der Gesetzesvorlage 'Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S 21-Kündigungsgesetz)' zu?" Übersetzt: "Ja" heißt Nein, also Nein zu Stuttgart 21, besser gesagt, Nein zur weiteren Mitfinanzierung des Bahnprojekts durch das Land.

Extrem ungleicher Wahlkampf

Der Wahlkampf ist da schon angerollt, und er ist von Anfang an von extremer Ungleichheit geprägt, vor allem der Ressourcen: Während den Befürwortern von Stuttgart 21 schätzungsweise 2,3 Millionen Euro zur Verfügung stehen, sind es beim Bündnis "Ja zum Ausstieg" (das sich größtenteils mit dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 deckt) nur 300.000 bis 500.000 Euro – zur genauen Summe gibt es widersprüchliche Angaben, so die Soziologin Julia von Staden, die 2020 die bislang wohl umfassendste wissenschaftliche Rekonstruktion und Analyse der Proteste gegen S 21 veröffentlicht hat. In jedem Fall ist es ein mindestens 4,5-faches Budget, das dem Pro-S-21-Lager zur Verfügung steht.

Foto: Joachim E. Röttgers

Vor falsche Alternativen gestellt

"Die Bevölkerung war bei der Volksabstimmung durch eine millionenschwere Kampagne mit verlogenen Behauptungen vor falsche Alternativen gestellt worden. Der Bahnhof, für den die Mehrheit gestimmt hatte, wird gar nicht gebaut – kein Bahnhof für 4,5 Milliarden mit einer Kapazität von 49 Zügen pro Spitzenstunde, aus dessen Bau auszusteigen künstlich hochgerechnete 1,5 Milliarden Euro gekostet hätte. Gebaut wird vielmehr ein Bahnhof mit einer verringerten Kapazität, der – jetzt schon, inklusive der sogenannten Ergänzungsprojekte – das Dreifache kostet, und aus dessen Bau auszusteigen und auf eine Alternative umzusteigen sogar sechs Milliarden Euro einsparen würde."

Martin Poguntke vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21

Mit diesem warnt es vor einer vermeintlich immensen Geldverschwendung beim Ausstieg: "1,5 Milliarden Euro für den Ausstieg verschwenden?" steht auf den Plakaten, oder "Weiter ärgern oder fertig bauen?" Daneben argumentieren die Ausstiegs-Gegner mit einem sicheren Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro für das Projekt sowie mit dem Nachweis einer höheren Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs durch den Stresstest.

Dass dies alles Falschbehauptungen seien, versucht das "Ja zum Ausstieg"-Lager zwar akribisch mit Erklärvideos und differenzierten Aufstellungen zu den wahren Kostenverteilungen und -risiken zu belegen, all dies bleibt aber zwangsläufig weniger plakativ und einprägsam als die Slogans der S-21-Fans. Und eher allgemein gehalten sind die Slogans der Ausstiegskampagne, die auf Plakaten prangen: "Ja zu Bürgerbeteiligung und mehr Demokratie" oder "Ja zu Sparsamkeit und Kostenwahrheit". Kritisch beurteilt das Julia von Staden: "Durch die indifferenten Allgemeinplätze, wie dem Ja zu Sparsamkeit und Demokratie, beschnitt sich die Protestbewegung, wie bereits während der Schlichtung (…), um eine konkrete Bezugnahme auf ihre Protestbegründungen und ihre Emotionalität, die den Protest trotz Konzentration auf Sach- und Fachfragen mitgeprägt hat."

Gottes Segen und ein kontroverser Brief

Für reichlich Emotionalität auf der Seite der Ausstiegs-Gegner sorgt derweil der Sozialdemokrat Claus Schmiedel. Schon Ende August hat er bei einer Veranstaltung gesagt, über Stuttgart liege "Gottes Segen". Auf himmlischen Beistand verlässt sich Schmiedel aber nicht allein, Anfang September trifft er sich mit CDU-Spitzenpolitikern wie Thomas Strobl und Peter Hauk, um das Vorgehen in einer gemeinsamen Kampagne auszuloten. Eine große Koalition parallel zur regierenden grün-roten, die auf Kritik unter anderem Kretschmanns stößt, worauf die SPD auf eine Mitarbeit an der Kampagne als Gesamtpartei verzichtet.

Foto: Joachim E. Röttgers

Eine politische Entscheidung

"Die Volksabstimmung stellt noch heute die Legitimation dafür da, dass das Land den Vertrag nicht gekündigt hat. Auch dass sich die Annahmen der Projektgegner inzwischen bestätigt haben, ändert daran nichts. Denn die Tatsachen waren ja weitgehend bekannt. Da es um eine politische Entscheidung ging, hatte das "Volk" selbstverständlich das Recht, anders zu entscheiden. Die Entscheidung bezog sich auf einen bestimmten Zeitpunkt, der inzwischen vorbei ist, aber die Konsequenzen bleiben.

Nach der Volksabstimmung hatte der BUND entschieden, das Projekt nicht mehr im Grundsatz anzugreifen, sondern nur noch für Verbesserungen zu sorgen. Was die Lehren aus der Volksabstimmung betrifft: Es wurden zunächst politische Schlüsse für die Bürgerbeteiligung an Projekten gezogen und sogar in Verwaltungsvorschriften überführt. Leider bemerkt man im politischen Raum einen gewissen Willen zur Abkehr von einer echten Bürgerbeteiligung. Es wird mehr davon gesprochen, "Menschen mitzunehmen", dies aber eben auf einen schon entschiedenen Weg. Diese Rückwärtsentwicklung bedauert der BUND sehr."

Sylvia Pilarsky-Grosch, Vorsitzende des BUND Baden-Württemberg

Reichlich Unmut bei den S-21-Gegner ruft auch hervor, als sich Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster Mitte November in einem Brief an alle 370.000 wahlberechtigten Stuttgarter wendet, um vor einem "Ja" bei der Abstimmung zu warnen. Die Kosten des Briefs von 130.000 Euro zahlt die Stadt.

Von den grünen Projektgegnern in der Landesregierung wiederum tritt eigentlich nur Verkehrsminister Winfried Hermann in der Ausstiegskampagne deutlich in Erscheinung. Anfang November stellt er ein Gutachten vor, dass nur von maximal 350 Millionen Euro Ausstiegskosten ausgeht. Und wenige Tage vor der Volksabstimmung veröffentlicht sein Ministerium ein weiteres Gutachten, das den vermeintlich durch den Stresstest belegten Kapazitätszuwachs im Tiefbahnhof widerlegt; stattdessen könne der Kopfbahnhof "heute schon mehr Züge abwickeln als S 21", nämlich 50 bis 56.

Es hilft alles nichts. Als am 27. November die Wahlurnen schließen, haben 48,3 Prozent der wahlberechtigten abgestimmt, und von ihnen sind 58,9 Prozent gegen einen Ausstieg aus der S-21-Finanzierung, nur 41,1 Prozent dafür. Nur in sieben Kreisen, alle im badischen Landesteil, gibt es eine Mehrheit für den Ausstieg, selbst in Stuttgart unterliegen die S-21-Gegner mit 47,1 zu 52,9 Prozent der Stimmen – wobei in den inneren vier Stadtbezirken Mitte, Süd, West und Ost die "Ja"-Stimmen überwiegen.

Die Grünen wollen damit ihren Widerstand gegen das Projekt beenden und es fortan "kritisch-konstruktiv" begleiten, ähnlich ist es beim Umweltverband BUND, in dessen Stuttgarter Landesbüro die Koordinierungsfäden für die Kampagne zusammengelaufen waren. Die BUND-Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender tritt als Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen S 21 zurück.

Postdemokratisches Herrschaftsinstrument

Trotz Enttäuschung in der Sache sagt Ministerpräsident Kretschmann noch am Abend der Abstimmung: "Das Volk hatte das letzte Wort, das ist ein Sieg für die Demokratie." Dass es bei Wahlen um Mehrheiten und nicht um Wahrheit gehe, das Volk habe ja die Möglichkeit gehabt, sich zu informieren, und dass der Käs' bei S 21 gegessen sei, dies werden fortan, in Variationen, die Argumentationsmuster Kretschmanns und der regierenden Landes-Grünen sein.

Als "Sieg für die Demokratie" will Julia von Staden die Volksabstimmung indes nicht deuten: "Die unterschiedlichen Voraussetzungen, besonders die finanziellen Möglichkeiten, zeigen auf, dass die Volksabstimmung nicht als hinlänglich demokratische Abstimmung gewertet werden kann", schreibt sie. Vielmehr habe sie eher als "Instrument zur Herrschaftsabsicherung", genauer, als "postdemokratisches Herrschaftsinstrument" gedient.

Unter "Postdemokratie", das bedarf einer Erläuterung, wird in der Politikwissenschaft eine Krise demokratischer Politik verstanden, die der britische Politologe Colin Crouch folgendermaßen beschrieb: "Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind (…), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten. Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert." Aspekte dessen seien "exemplarisch" bei der S-21-Volksabstimmung zu sehen gewesen, so von Staden: Ungleiche Ausgangsbedingungen, anhand von Wirtschaftsinteressen verteiltes Kampagnenbudget, ungeklärte Kostenaufstellungen.

Taugt nicht mehr als Legitimation

Foto: Heinrich-Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0, Link

Viele Absichtserklärungen, wenig Veränderung

"Eine grundlegende Veränderung der Bedingungen von Bürgerbeteiligung hat der Konflikt um Stuttgart 21 nicht bewirkt. Auf Bundesebene gibt es nach wie vor kein Recht auf Volksentscheide. Auf Landesebene wurden in Baden-Württemberg ab Dezember 2015 die Hürden für Volksbegehren und Volksabstimmungen gesenkt. Das ist sicher ein Effekt des Konflikts um S 21. Ich zweifle jedoch grundsätzlich an der Notwendigkeit von Zustimmungsquoren für Volksabstimmungen.

Das Planungsrecht hat sich in Sachen Bürgerbeteiligung nicht wirklich verändert. Es gibt einerseits viele Absichtserklärungen (so auch der 2013 von der Landesregierung beschlossene "Leitfaden für eine neue Planungskultur") und auch die aktuellen Diskussion um konsultative Bürgerforen (die mich wenig überzeugen), andererseits den Ruf nach einer drastischen Beschleunigung von Genehmigungsverfahren vor allem mit Blick auf Maßnahmen gegen den Klimawandel. Das Problem ist, dass man auf der grundsätzlichen rechtlichen Regulierung von Bürgerbeteiligung nicht vorab zwischen zweifelhaften Projekten wie S 21 und ökologisch sinnvollen Projekten unterscheiden kann, um erstere zu erschweren und zweitere zu erleichtern.

Wie fragwürdig die planungsrechtliche Handhabung von Großprojekten ist, zeigt das Beispiel der Tesla-Fabrik bei Berlin. Hier werden ohne abschließende Genehmigung vollendete Tatsachen geschaffen. Tesla baut (formell legal) derzeit auf eigenes Risiko, aber würde das nicht tun, wenn nicht hinter den Kulissen signalisiert worden wäre, dass eine Genehmigung kommen wird. Am Ende werden also auch die wasserrechtlichen Bedenken durch industrie- und arbeitsmarktpolitische Argumente ausgehebelt werden."

Dieter Rucht, Soziologe, Protestforscher, bis 2011 Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft am Wissenschaftszentrum Berlin

Die Frage der demokratietheoretischen Einordnung ist das eine, die ihrer Tauglichkeit als Legitimation für den Bau von Stuttgart 21 einen andere. Und hierzu hatte der Rechtsprofessor Joachim Wieland, der Volksabstimmungs-"Vater", bereits im Dezember 2012 gegenüber Kontext deutliche Worte gefunden: "Das Volk hat abgestimmt vor der Information, dass sich der Höchstbetrag innerhalb der Grenze von 4,5 Milliarden Euro halten würde. Nachdem sich erwiesen hat, dass diese Grenze jetzt um einen erheblichen Milliardenbetrag überstiegen wird, ist die Volksabstimmung nicht mehr verbindlich. (…) Die Regierung Kretschmann ist in der neuen Situation nicht mehr an die Volksabstimmung gebunden."

Es ist eine Möglichkeit, die die Grünen bislang noch nicht gesucht haben. Dass sie es im Parlament, auch wenn sie sich nicht gebunden fühlen würden, schwer hätten, gehört dabei auch zur Wahrheit; weder mit dem Koalitionspartner SPD bis 2016 noch mit der CDU seitdem hätte es seit 2011 eine parlamentarische Mehrheit für einen Ausstieg gegeben.

Aber wurden wenigstens in puncto Bürgerbeteiligung Lehren aus der Volksabstimmung gezogen? Der Partizipationsforscher Dieter Rucht sieht eher wenig Habhaftes: Immerhin sei das Quorum für Volksentscheide in Baden-Württemberg 2015 gesenkt worden, von 33 auf 20 Prozent. Aber an den Bedingungen von Bürgerbeteiligung habe sich sonst wenig geändert. Und die aktuelle BUND-Landesvorsitzende Sylvia Pilarsky-Grosch sieht nach einigen Verbesserungen mittlerweile gar eine "Rückwärtsbewegung" innerhalb der Politik, einen "gewissen Willen zur Abkehr von einer echten Bürgerbeteiligung."

Sicher ist immerhin, dass entgegen des Ausstiegs-Gegner-Slogans "Weiter ärgern oder fertig bauen?" seit dem November 2011 gilt: Weiter bauen und weiter ärgern. Weiteren Ärger brachten immer neue Kostensteigerungen und Projektverzögerungen, brachte die seit 2016 andauernde Klage der Bahn auf Mehrkostenübernahme, und wird ganz konkret auch die möglicherweise mehrjährige Abkopplung der Gäubahn für deren Anrainer von Stuttgart bis Singen bringen. Alles Landkreise, die 2011 gegen den Ausstieg gestimmt hatten.

 

Literaturtipps:

Julia von Staden: Stuttgart 21 – eine Rekonstruktion der Proteste. Soziale Bewegungen in Zeiten der Postdemokratie, transcript Verlag, Bielefeld 2020.

Britta Baumgarten/Dieter Rucht: Die Protestierenden gegen "Stuttgart 21" – einzigartig oder typisch?, in: Frank Brettschneider/Wolfgang Schuster (Hrsg.): Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, Wiesbaden 2012, S. 97–125.


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11 Kommentare verfügbar

  • Christine Fabricius
    am 30.11.2021
    Antworten
    Zum Weiterlesen: Mein Essay aus dem Jahr 2016: "Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21. Korrektiv oder Krücke der parlamentarischen Demokratie?", der auf den Punkt bringt, warum die grün-rote Koalition die Volksabstimmung brauchte.

    https://www.grin.com/document/417354
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