Reichlich Unmut bei den S-21-Gegner ruft auch hervor, als sich Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster Mitte November in einem Brief an alle 370.000 wahlberechtigten Stuttgarter wendet, um vor einem "Ja" bei der Abstimmung zu warnen. Die Kosten des Briefs von 130.000 Euro zahlt die Stadt.
Von den grünen Projektgegnern in der Landesregierung wiederum tritt eigentlich nur Verkehrsminister Winfried Hermann in der Ausstiegskampagne deutlich in Erscheinung. Anfang November stellt er ein Gutachten vor, dass nur von maximal 350 Millionen Euro Ausstiegskosten ausgeht. Und wenige Tage vor der Volksabstimmung veröffentlicht sein Ministerium ein weiteres Gutachten, das den vermeintlich durch den Stresstest belegten Kapazitätszuwachs im Tiefbahnhof widerlegt; stattdessen könne der Kopfbahnhof "heute schon mehr Züge abwickeln als S 21", nämlich 50 bis 56.
Es hilft alles nichts. Als am 27. November die Wahlurnen schließen, haben 48,3 Prozent der wahlberechtigten abgestimmt, und von ihnen sind 58,9 Prozent gegen einen Ausstieg aus der S-21-Finanzierung, nur 41,1 Prozent dafür. Nur in sieben Kreisen, alle im badischen Landesteil, gibt es eine Mehrheit für den Ausstieg, selbst in Stuttgart unterliegen die S-21-Gegner mit 47,1 zu 52,9 Prozent der Stimmen – wobei in den inneren vier Stadtbezirken Mitte, Süd, West und Ost die "Ja"-Stimmen überwiegen.
Die Grünen wollen damit ihren Widerstand gegen das Projekt beenden und es fortan "kritisch-konstruktiv" begleiten, ähnlich ist es beim Umweltverband BUND, in dessen Stuttgarter Landesbüro die Koordinierungsfäden für die Kampagne zusammengelaufen waren. Die BUND-Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender tritt als Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen S 21 zurück.
Postdemokratisches Herrschaftsinstrument
Trotz Enttäuschung in der Sache sagt Ministerpräsident Kretschmann noch am Abend der Abstimmung: "Das Volk hatte das letzte Wort, das ist ein Sieg für die Demokratie." Dass es bei Wahlen um Mehrheiten und nicht um Wahrheit gehe, das Volk habe ja die Möglichkeit gehabt, sich zu informieren, und dass der Käs' bei S 21 gegessen sei, dies werden fortan, in Variationen, die Argumentationsmuster Kretschmanns und der regierenden Landes-Grünen sein.
Als "Sieg für die Demokratie" will Julia von Staden die Volksabstimmung indes nicht deuten: "Die unterschiedlichen Voraussetzungen, besonders die finanziellen Möglichkeiten, zeigen auf, dass die Volksabstimmung nicht als hinlänglich demokratische Abstimmung gewertet werden kann", schreibt sie. Vielmehr habe sie eher als "Instrument zur Herrschaftsabsicherung", genauer, als "postdemokratisches Herrschaftsinstrument" gedient.
Unter "Postdemokratie", das bedarf einer Erläuterung, wird in der Politikwissenschaft eine Krise demokratischer Politik verstanden, die der britische Politologe Colin Crouch folgendermaßen beschrieb: "Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind (…), entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtung zurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten. Der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert." Aspekte dessen seien "exemplarisch" bei der S-21-Volksabstimmung zu sehen gewesen, so von Staden: Ungleiche Ausgangsbedingungen, anhand von Wirtschaftsinteressen verteiltes Kampagnenbudget, ungeklärte Kostenaufstellungen.
Taugt nicht mehr als Legitimation
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Christine Fabricius
am 30.11.2021https://www.grin.com/document/417354