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Untersuchungsausschuss Polizeiaffäre BW

AfD hat keine Lust mehr

Untersuchungsausschuss Polizeiaffäre BW: AfD hat keine Lust mehr
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Es geht um sexuelle Belästigung im Dienst und darum, ob die Richtigen die Spitzenposten bekommen. Der Polizei-Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags ringt um öffentliche Aufmerksamkeit. Manche Abgeordnete sind offenbar ermüdet von dem komplexen Thema.

"Wir sind nicht dazu da, in jeder Sitzung Sensationen zu liefern", umreißt FDP-Obfrau Julia Goll die Aufgabe von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen im Allgemeinen und vom Ausschuss "IdP und Beförderungspraxis" im Besonderen. Das einschlägige Gesetz verlangt von den Abgeordneten, "Sachverhalte, deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt, zu untersuchen". In der modernen Welt auch klassischer Medien zählen allerdings Schlagzeilen und Nachrichten, die Klicks und Quote bringen. 

Solange 2022 die Zukunft von Innenminister Thomas Strobl, damals noch CDU-Landeschef, am seidenen Faden hing, war das Interesse erheblich. Inzwischen kündigt die "Deutsche Presseagentur" den Termin der 32. Sitzung zwar an, aber unter der Überschrift "Voraussichtlich ohne Berichterstattung". Für die "Alternative für Deutschland" (AfD) zieht der Obmann im Ausschuss Hans-Jürgen Goßner seine ganz eigenen Schlüsse: Es sei auch im Interesse des Steuerzahlers zu überlegen, "ob wir nur noch ein totes Pferd reiten". 

Tatsächlich wiederholt sich manches. Inzwischen ist mehrfach bestätigt, dass bei Beurteilungen, Beförderungen und Besetzungen von Spitzenposten erheblicher Spielraum besteht für zweifelhafte Entscheidungen zugunsten von Bewerbern, deren Qualifikation allzu sehr in unangemessener Protektion von oben besteht. Nur die Spitze des Eisbergs: wie Strobl den Aufstieg von Andreas Renner zum Inspekteur der Polizei (IdP) befördert hat, wie dessen Konkurrenten am Telefon bearbeitet wurden, sich zurückzuziehen. Erwiesenermaßen stehen die Vorwürfe, die Renner das Amt gekostet und ihn auf die Anklagebank gebracht haben – bei einem Freispruch am Ende –, nicht allein im Raum. Nicht nur im Innenministerium gab es Sekt- und/oder Bierrunden, auch in Renners Zeit als Vizepräsident im Landeskriminalamt (LKA) brannte Licht in seinem Büro ebenfalls noch lange nach Dienstschluss, und das keineswegs, um zu arbeiten. 

Wenn vieles öfter zur Sprache kommt, wie die AfD beklagt, dann ist dies für Oliver Hildenbrand (Grüne) geradezu Grundlage dafür, dass die oft fachfremden Ausschussmitglieder sich ein zutreffendes Bild machen können. Zum Beispiel wenn die am vergangenen Montag befragten Zeugen bisherige Bewertungen bestätigen. Etwa Bernd-Michael Sorg, heute Vizepräsident im Polizeipräsidium Einsatz, der bekräftigte, dass Renner 2021 – damals IdP – an den offenkundig grundlosen Ab- und Einsetzungen von Führungskräften beim Sondereinsatzkommando (SEK) Göppingen beteiligt gewesen war (Kontext berichtete). Oder wenn die Polizeipräsidenten von Konstanz und Stuttgart, Hubert Wörner und Markus Eisenbraun, über Beurteilungen und Beförderungen berichten.

U-Ausschüsse sind nunmal Arbeit

Vor allem Wörner liefert noch einmal eine Bewertung üblicher Besetzungsverfahren. Da es für alle Details bei Beförderungen Rechtsprechung gebe, sei der Interpretationsspielraum letztlich gering, erläuterte er. Wie bei allen Systemen stelle sich aber die Frage der Anwendung. Strukturelle Schwächen sieht der frühere Spitzenbeamte im LKA nicht; auch an Renner, in dessen Zeit als LKA-Vize, ist ihm nichts Negatives aufgefallen. Ein Schlaglicht wirft Wörner auf den Umgang mit sexueller Belästigung: Seiner Erfahrung nach nutzten vor allem junge Frauen nicht die Möglichkeit, Übergriffe zu melden. Eisenbraun bestätigte jenen "Flurfunk", der schon öfter Thema im Untersuchungsausschuss war, wonach bekannt war, dass sich der IdP mancher Kollegin angenommen hat, um sie auf den nächsten Karriereschritt vorzubereiten.

Goßner (AfD) beschwert sich in seiner Bewertung des diesmal Gehörten regelrecht darüber, dass häufig ähnliche Fragen gestellt werden. Es erscheine ihm sinnlos, Zeugen immer weiter nach Gerüchten zum Inspekteur zu fragen. Die Geschichte der Untersuchungsausschüsse im Land lehrt jedoch anderes: Wer die wundersame Verschiebung einer Mülldeponie aus dem Wahlkreis des damals aufstrebenden späteren Ministerpräsidenten Erwin Teufel (CDU) zu bewerten hat, Fehler bei der Atomaufsicht, dem FlowTex-Skandal rund um imaginäre Tunnelbohrmaschinen oder Stefan Mappus' (CDU) heimlichen EnBW-Milliardendeal vorbei am Parlament, der kann nun mal nicht auskommen ohne mehrfach bestätigte Zeugenaussagen, der braucht "diese unterschiedlichen Puzzlesteine", so Hildenbrand, die dann von den Abgeordneten zusammengesetzt werden müssten.  

"Die Arbeit kostet viel Zeit und Nerven", sagt der Grünen-Obmann, "aber sie ist der Mühe wert." Bei hochkomplexen und hochrelevanten Sachverhalten seien unterschiedliche Perspektiven notwendig für eine realistische Einschätzung. Aktuelles Beispiel: die Vorgänge beim SEK Göppingen, wo einzelnen Einsatzkräften rechtsradikale Tendenzen nachgesagt wurden. Ein Vorwurf, den keiner der dazu gehörten Zeugen bestätigt hat.  

Besser gründlich als zu schnell

Ursprünglich wollte vor allem die CDU ratzfatz fertig sein. "Eine unbestimmte Zeitspanne des Untersuchungsausschusses von mehreren Monaten ist mit uns nicht zu machen", sagte Fraktionsgeschäftsführer Andreas Deuschle bei der Einsetzung des Gremiums am 1. Juli 2022. Das heikle Thema brauche "eine präzise und schnelle Aufklärung, auf die man sich vorausschauend verlassen kann". Ende September 2023 sollte Schluss sein. Deuschle irrte sich. 15 Monate später ist ein Ende vor der Sommerpause 2025 zwar in Sicht, vor allem ein Komplex muss aber noch einmal aufgerollt werden.

"Es kann nicht sein", sagt SPD-Obmann Sascha Binder, "dass aus Besetzungsverfahren gebrochene Menschen herauskommen, für die es keine Hilfe gegeben hat." Dabei geht es vor allem um die willkürliche Ablösung des früheren SEK-Vizes, der dem Ausschuss von seiner verzweifelten Suche nach Hilfe berichtet hatte, von seinen Tränenausbrüchen auch vor dem IdP, von seiner Krankschreibung und davon, dass bis heute niemand aus dem Innenministerium den Kontakt zu ihm gesucht hat. Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz wird sich dazu noch erklären müssen. 

Möglich, dass selbst der Chef des Hauses, Thomas Strobl, noch einmal in den Zeugenstand muss. In einzelnen Punkten, sagt Julia Goll, habe er vor dem Ausschuss nicht die Wahrheit gesagt. Anderes kann ebenso noch aufgerufen werden. Eben erst hat der Innenminister in seiner schriftlichen Antwort auf eine FDP-Anfrage zu zumindest fragwürdigen Formulierungen im Umgang mit sexuellen Belästigungen in Dienststellen gegriffen. "Die räumliche Trennung der Beteiligten kann grundsätzlich ein sinnvolles Instrument sein, insbesondere um die betroffene Person vor weiteren sexuellen Belästigungen zu schützen", schreibt er ausgesprochen defensiv, anstatt klarzumachen, dass und wie sexuelle Belästigungen abzustellen sind. 

Und Schlagzeilen wird es auf jeden Fall geben, wenn die Arbeit abgeschlossen ist, wenn die Berichte und Empfehlungen vorliegen. Denn danach wird Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) nicht erspart bleiben, sich doch noch mit der für ihn unangenehmen Causa und mit den vom Innenminister mitverantworteten Vorgängen zu befassen.

Mehrfach forderte die Opposition, als der Ausschuss 2022 gerade die ersten Monate hinter sich hatte, Strobls Rücktritt. Mehrfach ist thematisiert worden, "wie lange Kretschmann dem Straucheln seines skandalumwitterten Stellvertreters noch tatenlos zusehen will", so FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke schon vor zwei Jahren. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass Fragen wie diese wieder auf die Tagesordnung kommen im Herbst 2025, wenn der Landtag die Ergebnisse der Ausschussarbeit in einer Plenardebatte zu bewerten hat. Und dann wird sich der Ministerpräsident positionieren müssen. Der Zeitpunkt ist pikant. Etwa ein halbes Jahr später ist Landtagswahl.

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