Kurz nach Ihrem Amtsantritt kam es zwischen dem Einzelhandelsverband, der Politik und Ihrer Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen HBV, die 2001 in Verdi aufging, zu heftigen Konflikten.
Im Zentrum stand die Auseinandersetzung um die Ladenöffnungszeiten, das begann etwa Mitte der achtziger Jahre. Die damalige CDU/CSU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl wollte den sogenannten Dienstleistungsabend einführen – jeweils donnerstags bis 20.30 Uhr – und die Ladenöffnungszeiten generell ausweiten. Wir wehrten uns nach Kräften. Am ersten Tag der verlängerten Öffnungszeit, 1989, ich erinnere mich noch gut, trugen wir Trauerbinden am Arm – zum Entsetzen des damaligen Geschäftsleiters, der ist im Viereck gesprungen. Aber uns hatte man immerhin den Feierabend geklaut!
Hat sich die Ausweitung der Öffnungszeiten auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Die Belegschaft ist heute wegen der unterschiedlichen Arbeitszeiten und Schichtsysteme fragmentiert. Selbst die Leute, die in derselben Abteilung arbeiten, sehen sich kaum noch. Damals war am Samstag um 14 Uhr Feierabend, sodass wir vom Betriebsrat aus mit allen Angestellten einmal im Jahr ein Grillfest veranstalten konnten. Das geht nicht mehr. Früher hatten wir eine Betriebsgruppe, die sich abends um 19 Uhr im Gewerkschaftshaus traf und diskutierte. Heute ist es schon schwierig, eine Betriebsversammlung abzuhalten. Dazu kommt, dass früher fast alle Kolleginnen und Kollegen in Konstanz gelebt haben; heute wohnt nicht einmal mehr die Hälfte hier, weil die Mieten zu hoch sind. Und wer in Engen wohnt, fährt nicht gern an seinem freien Tag zur Betriebsversammlung nach Konstanz. Das macht es sehr schwierig, etwas zu organisieren.
Waren die Arbeitsbedingungen früher besser?
Rückblickend glaubt man das immer. Aber ich würde schon sagen: Ja, insgesamt gesehen waren sie besser – auch wenn viele Junge die längeren Ladenöffnungszeiten gut finden und sagen: Ach, ich arbeite lieber von 11 bis 20 Uhr, da kann ich länger schlafen. Außerdem waren früher die Einzelhandelsbeschäftigten ohne Befristung und in Vollzeit angestellt. Heute werden im Einzelhandel so gut wie keine Stellen mehr in Vollzeit angeboten – alle arbeiten Teilzeit, viele davon als 450-Euro-Jobber. In ganz Konstanz gibt es nicht ein Einzelhandelsgeschäft, das unbefristete Vollzeitstellen anbietet.
Hinzu kommt, dass der Tarifvertrag im Einzelhandel früher allgemeinverbindlich war. Diese Allgemeinverbindlichkeit verschwand im Jahr 2000, also unter der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder. Andererseits hat heute die Technik dem Personal aber auch Arbeit abgenommen: Durch das Warenwirtschaftssystem wird die Ware automatisch und bereits ausgezeichnet angeliefert – früher musste der Verkäufer, die Verkäuferin jeden einzelnen Artikel noch von Hand mit einem Preis versehen. Auch die Arbeit an den Kassen hat sich verändert, alles ist automatisiert.
Ganz unproblematisch ist neue Technik meist auch nicht ...
Stimmt, die heutigen Erfassungssysteme erlauben eine viel genauere Leistungskontrolle: Wie viele Kunden gehen aus dem Laden, ohne etwas gekauft zu haben? Wie viel Umsatz macht eine Verkäuferin? Solche Zählsysteme gibt es ja inzwischen überall. Bei Karstadt hat der Betriebsrat verhindert, dass diese Erhebungen Folgen haben. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Verkäuferinnen und Verkäufer keinen Druck bekommen, wenn die Umsätze nicht hoch genug sind.
Kommen wir auf die Gewerkschaft zu sprechen. Was hat sich in den dreißig Jahren verändert?
Die HBV war damals eine ganz andere Organisation als Verdi heute: klein, übersichtlich, bewegungsorientiert und konfliktbereit. Zudem war die Gewerkschaft früher vor Ort präsent. Wenn du ein Problem hattest, hast du angerufen und gefragt: Wie gehen wir da vor? Der heutige Gewerkschaftssekretär ist auch für Betriebe in Lörrach, Freiburg, Offenburg, Rottweil, Tuttlingen und so weiter zuständig. Wir hatten auch noch eine Fachgruppe Einzelhandel, die vor Ort tagte. Wenn sie heute zusammenkommt, dann meist in Geisingen. Wer fährt abends von Konstanz noch nach Geisingen zur Fachgruppensitzung? Und als es vor Ort noch den DGB gab, haben wir bei Arbeitskonflikten auch mehr Zuspruch von anderen Gewerkschaften erfahren – von den verschiedenen Verdi-Fachbereichen ist nichts mehr zu hören. Es findet kein Austausch mehr statt.
Die Gewerkschaft zieht sich aus der Region zurück ...
Ja, und auf jede Umstrukturierung innerhalb der Gewerkschaft folgt ein weiterer Rückzug: Verdi konzentriert sich auf die Großstädte und ist auf dem Land und in kleineren Städten kaum noch vertreten. Die Schulungen für Betriebsräte und Vertrauensleute haben die Gewerkschaftssekretäre früher selber organisiert. Heute macht das bei Verdi eine gemeinnützige Bildungseinrichtung, und die SchulungsleiterInnen sind in der täglichen Arbeit nicht mehr verankert.
Wie hat sich der Organisationsgrad im Laufe der Jahre entwickelt?
Mitte der achtziger Jahre gab es bei Hertie noch so gut wie keine gewerkschaftliche Aktivität. Ich war eine von vielleicht fünf, sechs GewerkschafterInnen im ganzen Betrieb, und das bei etwa 380 Beschäftigten. Durch die vielen Aktionen gegen die verlängerten Öffnungszeiten haben wir viele Mitglieder gewonnen, dazu die ganzen Warnstreiks in den Tarifrunden – das wirkt immer. Ende der Achtziger waren dann weit über sechzig Prozent der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert. Damals musste man die Leute nicht groß überzeugen, den Gewerkschaften war es in den Jahren zuvor gelungen, die Löhne und Gehälter deutlich anzuheben. Heute kannst du lang an die Leute hinreden, sie wollen nicht in die Gewerkschaft und wissen auch gar nicht mehr, was ihnen das bringen soll ...
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phronopulax
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