"Das ist unterirdisch", schimpft Bernhard Stracke. "Auf so etwas hätte sich keine unabhängige Arbeitnehmervertretung eingelassen", glaubt der Vorsitzende der Gewerkschaft der Gewerkschaftsbeschäftigten (GdG). Die unabhängige GdG hatte vor den Verhandlungen sechs Prozent mehr Geld gefordert. Der Verdi-Gesamtbetriebsrat hatte fünf Prozent mehr für seine Leute verlangt, die monatlich zwischen 3000 Euro (Sekretärin) und 4000 Euro (mittlerer Funktionär) brutto verdienen.
Dabei hatte die GdG Druck gemacht und alle Verdi-Beschäftigten zum Ausstand gegen den eigenen, streikerprobten Arbeitgeber aufgerufen. Am Montag, den 11. Juli, traten bundesweit rund 1000 Verdi-Beschäftigte zeitweilig in den Warnstreik, was in diesem Umfang ein Novum in der Geschichte von Verdi sein dürfte. Allein zur zentralen Protestkundgebung beim Frankfurter Gewerkschaftshaus kamen allein rund 500 Mitarbeiter. Als die Verhandlungskommission des Bundesvorstands eintraf, streikte sogar der Aufzug, sodass sich die Gewerkschaftsspitze in der ungewohnten Rolle des Spießrutenlaufens durch eine trillerpfeifende Protestmenge wiederfand.
Es hätte nach außen kein gutes Bild gegeben. Während Gewerkschaftsboss Bsirske bei Tarifauseinandersetzungen gern im Scheinwerferlicht steht, scheute der Verdi-Vorstand diesmal die Öffentlichkeit. Die Presse wurde erst gar nicht zur Berichterstattung über die Verhandlungen eingeladen. Stillschweigen auch im Verdi-Presseportal. Dort findet sich zwar eine aktuelle Meldung zum Tarifabschluss im Bankengewerbe, aber keine zum Abschluss im eigenen Haus. Das Hintermberghalten hatte Erfolg: In den Medien kam der Verdi-Konflikt kaum vor, die Deutsche Presseagentur begnügte sich mit zwei Kurzmeldungen. Kurz: Die Öffentlichkeit bekam vom gewerkschaftsinternen Zwist ums Geld fast nichts mit.
Gewerkschafter streiken gegen die eigene Gewerkschaft
Dabei hätte es sich durchaus gelohnt, genauer zu hinterfragen. Etwa, warum das Verhandlungsergebnis in der rekordverdächtigen Zeit von nur fünf Stunden spruchreif war. Erklären kann dies auch Bernhard Stracke nicht. Denn unabhängige Gewerkschaftsvertreter wie er saßen nicht mit am Verhandlungstisch. 1994 hatte sich die GdG gegründet, damals als Verband der Gewerkschaftsbeschäftigten, unter anderem weil es für sie keine andere Tarifvertragspartei gibt, die rechtswirksam Tarifverträge abschließen könnte. Und auch, weil Gewerkschaftsbeschäftigte keine Lobby innerhalb ihrer Organisationen haben, erläutert Stracke.
Heute hat die GdG nach seinen Angaben insgesamt 1000 Mitglieder und vertritt zehn Prozent der Verdi-Beschäftigten. Noch zu wenig, um beim Gewerkschaftsvorstand ein Mitspracherecht einfordern zu können. Das magere Ergebnis handelten andere aus: alleiniger Ansprechpartner für die Verdi-Spitze ist, wie auch bei allen anderen Einzelgewerkschaften und beim Deutschen Gewerkschaftsbund als Dachverband, der Gesamtbetriebsrat. Auf Landesbezirks- oder Kreisebene sprechen die Betriebsräte für die Arbeitnehmer. Und dies, obwohl nahezu alle Gewerkschaftsmitarbeiter auch Mitglied ihres Arbeitgebers sind, also gewerkschaftlich organisiert sind.
Gewerkschaften sind Tendenzbetrieb ohne Tarifverträge
Diese Konstruktion der Arbeitnehmervertretung rührt aus betriebsrechtlicher Historie her: Gewerkschaften gelten als Tendenzbetriebe, die nicht gewinnorientiert, sondern mit unmittelbar und überwiegend ideeller Zielsetzung arbeiten. Aus arbeitsrechtlicher Sicht führt dies zu dem Kuriosum, dass die Gewerkschaften selbst eigentlich nicht bestreikt werden können. Denn den Betriebsräten ist es von Gesetz wegen verboten, zum Streik aufzurufen, um Arbeitnehmerforderungen gegenüber dem Gewerkschaftsvorstand durchzusetzen. Nach Paragraf 74, Absatz 2 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) sind Betriebsräte dazu verpflichtet, "Maßnahmen des Arbeitskampfes" zu unterlassen. Allerdings stellt das Gesetz sofort im Anschluss daran klar, dass "Arbeitskämpfe tariffähiger Parteien" durch dieses Verbot "nicht berührt" werden. Tariffähig sind auf Seiten der Arbeitnehmer nur die Gewerkschaften, nur sie und nicht etwa ein Betriebsrat können Tarifverträge abschließen.
So kommt es auch, dass bei den Gewerkschaften bislang keine Tarifverträge existieren. Bei Verdi verbietet sogar explizit die eigene Satzung, ein derartiges Vertragswerk abzuschließen, in dem die Tarifpartner, also Arbeitgeber und in der Regel die Gewerkschaft, Rechte und Pflichten und arbeitsrechtliche Normen festschreiben. Stattdessen regeln bei Verdi sogenannte Allgemeine Arbeitsbedingungen Wochenarbeitszeit und Urlaubsanspruch – was Kritikern schon länger monieren. Sie sagen, dass die Arbeitsbedingungen in der Regel einseitig, zu Gunsten der Arbeitgeber ausgehandelt und formuliert sind. "Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske fordert schon immer Tarifverträge für alle Beschäftigten. Nur im eigenen Haus verweigert er seinen Mitarbeitern einen", kritisiert Stracke.
Die Streiks drücken auf den Kassenstand von Verdi
Kenner der Verdi-Welt unterstellen dem Gewerkschaftsvorstand jedoch nicht die Absicht, ihre Mitarbeiter besonders ausnützen zu wollen. Vielmehr scheinen die Arbeitskämpfe der jüngeren Vergangenheit die Streikkassen geleert zu haben. So beziffern Experten die Kosten eines Streiktags im öffentlichen Dienst mit mehr als einer Million Euro. Allein die wochenlangen Streiks bei der Post und in Kindergärten im vergangenen Jahr hätten mehr als 40 Millionen Euro gekostet und die Streikreserven eines Jahres aufgebraucht, schätzt der Tarifexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Hagen Lesch. Zwar stecke die Gewerkschaft seit 2012 jedes Jahr acht Prozent ihrer Beitragseinnahmen in den Streikfonds, zuvor seien es nur drei Prozent gewesen. Bei Einnahmen von 444,4 Millionen Euro im vergangenen Jahr seien also allein 2015 mehr als 35 Millionen Euro in die Streikkasse geflossen, rechnete Lesch in der "Welt" vor. Hinzu kämen noch die Erträge aus dem Vermögen der Gewerkschaft, aus Immobilien, Anleihen und Aktien. Dennoch müsse die Streikkasse derzeit für zukünftige Arbeitskämpfe erst wieder aufgefüllt werden, so ein Insider.
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Schwabe
am 09.08.2016