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Marx hätte gelächelt

Marx hätte gelächelt
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Konsequente Europa-Richter haben endlich das Grundrecht auf Eingrenzung der Arbeitszeit festgelegt – ohne Wenn und Aber! Ein Kommentar.

Zeit ist Geld. Dieser Satz ist allen Luxemburger Banken wohlfeil. Den Richtern des Europäischen Gerichtshofs in dieser ländlichen Capitale nicht minder: Sie gaben den Bürgern in Europa erstmals ein „Grundrecht auf Eingrenzung der Arbeitszeit.“

Karl Marx hätte gelächelt und mit seinem Busenfreund Friedrich Engels eine Flasche Chateau Margaux, Jahrgang 1848, zur Feier des Tages geleert und „endlich“ gesagt. Denn die Richter haben erstmals in der Geschichte der Arbeit und der Arbeitszeit einen Arbeitstag zeitlich verbindlich und seine allgemeinverbindliche Kontrolle und Erfassung von Mehrarbeit festgelegt.

Die EU-Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung wurde von den Juristen mit der europäischen Grundrechtecharta verknüpft, welche die Eingrenzung der Arbeitszeit vorsieht.

Im „Kapital“: „der Arbeitstag“ (S. 245–253) steht : „Der Kapitalist sucht den größtmöglichen Nutzen aus dem Gebrauchswert seiner Ware (Arbeit) herauszuholen.“ Und der Arbeiter von damals formulierte: „Ich verlange also einen Arbeitstag von normaler Länge und ich verlange es ohne Appell an dein Herz, denn in Geldsachen hört die Freundschaft auf.“

Auf Drängen des Deutschen Journalisten-Verbandes wurde auch die tarifliche 35-Stunden-Woche wieder verschenkt. Während jede Nachrichtenagentur seit Jahrzehnten genau geregelte Arbeitszeitpläne pro Tag praktizierte, kapieren in weit über drei Viertel der Verlage die Redakteure nicht, ihre 37,5-Stunden- und die 5-Tage-Woche einzuhalten.

Auch hier würde das rückwärtige Geltendmachen dieser Arbeitszeit eine satten Milliarden-Betrag und eine schöne Umwandlung an Eigentum am Verlag bedeuten.

Mehrarbeit am Geschäftsjahresende ist in der Bilanz festzuhalten. Das war die einzige Zeit im Verlag, wo der Chefredakteur den Redakteur nötigte, vier Wochen Mehrarbeit in zwei Wochen Urlaub abzubauen!

Betriebsräte informieren, Arbeitnehmende gehen fischen

Es ist zu hoffen, dass jeder Betriebsrat und die Gewerkschaften das Gerichtsurteil allen Arbeitnehmern im Wortlaut zukommen lassen, dass in extra angesetzten Betriebsversammlungen die Zeiterfassung diskutiert und dann in Pilotversuchen im Unternehmen praktiziert wird.

Ein gutes Beispiel haben unsere französischen Kollegen – dort wurde vom Staat die 35-Stunden-Woche verfügt und von Herrn Macron gegen weiten Widerstand der Gewerkschaften aufgeweicht. Dennoch, dort gibt es feste Regeln zur Erfassung von Arbeitszeit und Mehrarbeit oder deren Abbau.

Einige Grundmuster sind geeignet, die unterschiedlichen Anforderungen an Beschäftigte und ihre Anforderungen im Unternehmen oder im Einsatz bei den Menschen in verschiedene Kategorien einzuteilen, wobei aber bei allen die Grundarbeitszeit die gleiche ist und die tatsächlich geleistete Arbeitszeit zu weniger Arbeitstagen führt.

So hat ein Normalarbeitnehmer – non cadre, also nicht leitend – pro Jahr 214 bis 218 Tage im Jahr zu arbeiten.

Bei Arbeitnehmern mit höheren arbeitszeitlichen Anforderungen ist die Kategorie – cadre und cadre dirigeants – also leitend – vorgesehen. Es werden die Zahl der Arbeitstage durch die Abgeltung der Mehrarbeit im Jahr geringer. Das kann bei regelmäßiger Mehrarbeit zu 160 Arbeitstagen im Jahr führen.

Welch ein Segen für einen Redakteur. Er und sie dürfen zehn Stunden plus x arbeiten und wenn die Zeitung voll ist, dann sind sie im Monat statt der 22 Arbeitstage nur noch 18 oder 15 Tage in der Redaktion und gehen die Hälfte des Monats getreu der „Deutschen Ideologie“ Band 3, Karl Marx, „morgens zu(m) jagen und mittags zu(m) fischen“.

Dazwischen liegen die Kämpfe um die 48-Stunden-Woche, die 40-Stunden-Woche, die 35-Stunden-Woche und den Acht- und Siebenstunden-Tag und das ganze in seiner Aufweichung bis Mai 2019 in Gestalt von „Vertrauensarbeit“ und Flexibilisierung der Arbeitszeit.

Die  gewerkschaftlichen Kämpfe um den Achtstunden-Tag und seine Kontrolle haben viele Hundert Millionen Reichsmark, DM und Euro gekostet – aber von der über alle Branchen und Berufe verbindlichen Einhaltung und Erfassung waren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oft meilenweit entfernt.

Dies allein der Arbeitgeberseite vorzuwerfen, wäre die Unwahrheit. Datenschutzbeauftragte und Gewerkschafter können unendliche Geschichten erzählen, warum Arbeitnehmer denken, ohne Arbeitszeiterfassung ginge es besser. So sehr dabei der Moment der Eigenverantwortung, der Vertrauensarbeitszeit und die Flexibilität hervorgehoben werden, so steht in allen Behauptungen ein Zweifel an der eigenen Leistung oder das Wollen dem Arbeitgeber zu suggerieren, dass hier einer über der Norm arbeitet.

Brauchbare Zeiterfassungsmodelle gesucht

Seit vergangener Woche ist dies Geschichte, alles perdu. Denn ab jetzt müssen wir uns auf die Suche nach brauchbaren Zeiterfassungsmodellen begeben und wie wir unsere Arbeitskraft dabei nicht mehr verschenken.

Denn dies steht ebenso fest: Die Nichteinhaltung der eigenen Arbeitszeit und die Nichterfassung von Mehrarbeit und deren geldwerte Nicht-Abgeltung haben den Arbeitgebern Milliarden an Euro im Laufe vieler Jahre geschenkt.

Und um gleich mit dem zweiten Missverständnis aufzuräumen: Es geht hier nicht um Arbeit nach Stechuhr. Das ist tumbe Polemik all derjenigen, denen der eigene Profit näher liegt als die Gesundheit des Arbeitnehmers.

Zum Dritten soll und muss gerne anerkannt werden, dass die Arbeitswelt und ihre zeitlichen Erfordernisse, um Menschen und Maschinen zu bedienen, eventuell sehr verschiedene Arbeitszeitmodelle braucht.

Das führt aber nicht an der grundsätzlichen und verbindlichen Erfassung der Norm und ihrer Überschreitung vorbei. Wir hören in der Arbeitszeit ja auch nicht auf zu atmen.

Ein Grundrecht ist es, gerecht in seinem Arbeitsmaß erfasst zu werden. In jedem Winkel von Europa, jede ArbeitnehmerIn.

Und auch jeder Journalist!

Denn auch für Journalisten gilt seit der vergangenen Woche: Jeder Verleger hat die Pflicht, den Redakteur in seiner Arbeitszeit zu vermessen und festzustellen, wann er in Mehrarbeit geschrieben hat und Freizeitansprüche oder Entgeltung für diese gearbeiteten Mehrzeilen erhalten muss.

Als vor etlichen Jahren beim SWR die Gewerkschaften mit der Geschäftsleitung den Tarifvertrag Arbeitszeit verhandelten, war eine der Grundregeln, dass er auch für die Redaktion zu gelten habe. Aufstände in Tal der Oos (Baden-Baden). Die Nachrichten-Redaktion hatte ein eigenes System ihrer Mehrarbeitserfassung – das wohl da und dort in seiner Ausgleichsregelung von Mehrarbeit üppiger war als der Tarifvertrag. Da gab es noch eine Zeit lang doppelte Buchführungen – und eine händische Zeiterfassung. Das hat sich versendet.

Bei den Tageszeitungen ist eine der gefährdeten Mehrarbeitsspezies der genuine Sportjournalist: Quer durch alle Ligen kann sich kein Sportjournalist vorstellen, dass es ein Spiel seines Clubs ohne ihn geben kann. Auch nicht an seinem freien Tag. Bei „Bild“ in Hannover führte dieser Wildwuchs zu mehrjährigen Freizeitansprüchen der Redaktoren.

Das ist aber die Ausnahme. Hauptnutznießer über Jahrzehnte hinweg, trotz existierender 37,5 Stunden-Woche, und einer sehr großzügigen Freizeitabgeltung 1:1 von Mehrarbeit sind die Verleger jeglicher Art.


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