Wer die Expedition ins Herz der Innenstadt wagt und, vorbei an Schilderwald und Baugruben mit Krater-Charakter, in die Tiefen einer notdürftig weiterbetriebenen Bahnhofsruine hinabsteigt, entdeckt in der unterirdischen S-Bahn-Station ein paar metergroße Infoscreens, über die bisweilen interessante Informationen flackern. Etwa, dass 29 Prozent der Stuttgarter:innen "beabsichtigen, in absehbarer Zeit umzuziehen". Hoppla! Die Zahl, die nicht gerade als Werbung für die Lebensqualität in der Landeshauptstadt taugt, entstammt einer aktuellen Bürgerumfrage. Ein Blick in das Quellmaterial macht alles noch schlimmer: Bei der Bevölkerungsgruppe zwischen 18 und 29 Jahren sollen es sogar ganze 80 Prozent sein, die gegenwärtig einen Umzug erwägen.
Dabei biete Stuttgart Bauwerke, die Geschichten erzählen, ob "glanzvolle Schlösser", "wegweisende Neubauten" oder "mutige Architektur", wie es in der Selbstdarstellung auf der städtischen Website heißt. Es gebe hier eine "kulturelle Vielfalt mit Weltruf", obendrein sei die Region "ein innovativer und weltweit führender Industriestandort". Wie kommt es da, dass die Jugend (und nicht nur sie) der Stadt in Scharen den Rücken kehren will?
Der Geist und seine Flasche
Im Stuttgarter Kessel hat es gebrodelt, wie Kontext-Mitbegründer Josef-Otto Freudenreich vor elf Jahren im "Spiegel" schrieb. Der Protest gegen Stuttgart 21 – ein als Bahnhofsbau getarntes Geschenk an die Immobilienlobby, das für viele Milliarden Euro langfristige Kapazitätsengpässe im Schienenverkehr zementiert – hatte damals seinen Zenit erreicht: Gegen "Deutschlands dümmstes Großprojekt" (so die "Süddeutsche Zeitung") und für ein neues Stuttgart gingen Perlenkettenwitwen vom schönen Killesberg zusammen mit Hartz-IV-Beziehenden vom Hallschlag auf die Straße, Architekten, Ingenieurinnen, Juristen, Professorinnen, Kleinunternehmer, Konservative und Alternative, Protesterprobte und Neulinge. Da habe sich eine Stadt gefunden, schrieb Freudenreich, "die nicht mehr für die biedere Gemütlichkeit steht, sondern für den Aufruhr". Menschen, die bei aller Verschiedenheit eint, dass sie "nicht unter Niveau belogen werden" wollen.
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Tobias
am 07.10.2022