Ein Flaschensammler erkundigt sich: Wie viel Konkurrenz ist heute unterwegs? Nur eine alte Frau, erfährt er vom Treppenvolk. Der Mann winkt ab. "Die ist keine Konkurrenz." Er sagt es nicht verächtlich, sondern geschäftig – und packt sein Notizbuch aus für einen Vermerk. Marktanalyse. "Buchhaltung ist das A und O in der Wirtschaft", erklärt der Sammler. An guten Tagen verdient er um diese Zeit zehn Euro in zwanzig Minuten. "Da macht es dann auch keinen Unterschied mehr, ob ich am Fließband stehe oder hier im Freien arbeite." Er grinst, zeigt zum Beleg einen Geldbeutel voller Quittungen und düst weiter. Die Konkurrenz schläft nie, erst recht nicht in der Goldstunde.
Es ist ein sonniger Mittwochabend auf dem Stuttgarter Schlossplatz. An der Freitreppe herrscht ein Gedränge, als wäre die Pandemie vorbei. In ein paar Minuten, um 20 Uhr, soll der Sammelpunkt bis in die Morgenstunden abgesperrt werden. Allerdings nicht wegen des Infektionsschutzes. Für Ordnungsbürgermeister Clemens Maier ist die Treppe der "Ausgangspunkt der Provokationen und Übergriffe auf Polizeibeamte" gewesen, als hier am vorangegangenen Wochenende sechs Flaschen flogen, vier Personen leicht verletzten und einer Beamtin eine Scherbe im Bein stecken blieb. Stuttgarts stellvertretender Polizeipräsident, Markus Eisenbraun, pflichtet bei: "Es hat sich gezeigt, dass es immer wieder Rädelsführer gibt, die die überwiegend friedliche Menge anzustacheln versuchen. Dabei nutzen sie die Freitreppe als Tribüne."
Auch Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) hebt im Gespräch mit dem SWR den "regelrechten Bühnen- und Arenacharakter" der Architektur hervor. Der Moderator wirkt eingangs skeptisch und fragt, ob sich die streitlustige Minderheit nicht einfach woanders treffen könne. Doch Nopper insistiert, dass die Sperrung vor Wochenenden und Feiertagen eine "Befriedungs- und Beruhigungsfunktion" erfülle.
Die Gladiatoren im Schlossplatzkolosseum
Wie solche Einschätzungen zustande kommen? Durch "intensive Beratungen", wie Ordnungsbürgermeister Maier mitteilt. Er ist am Mittwoch vor Ort und berichtet, wie Provokateure vor den Ausschreitungen – mit dem Rücken zum Schlossplatz und den Rängen der Treppe zugewandt – die Menge aufgepeitscht hätten. Selbst hat er es nicht gesehen, aber so hat es ihm die Polizei geschildert.
Schön, dass die Staatsgewalten Perspektiven austauschen. Allerdings scheint teils auch unter Ordnungshütern umstritten, dass es sich wirklich um eine sinnvolle Maßnahme handelt. Ob sie sich nicht albern vorkommen, wird ein Beamter bei der Räumung der Treppe am Mittwoch gefragt. "Einer muss es ja machen", antwortet der Mann vom Anti-Konflikt-Team gequält. Um 20 Uhr wird nicht nur das Publikum auf den Stufen verscheucht. Maskenlose Arbeiter rücken mit einem Bauzaun an, der nach Errichtung unter strengem Objektschutz der Helden in Blau steht.
26 Kommentare verfügbar
Dieter Reicherter
am 14.06.2021