Ich möchte ein Beispiel bemühen, um deutlich zu machen, was ich mit einer Revolution in unseren Köpfen meine. Es ist der Wettbewerb, eines der Kerndogmen, der Grundaxiome des Neoliberalismus, sein Dreh- und Angelpunkt. Wettbewerb meint Konkurrenz, Wettkampf, das Streben nach Überlegenheit. Wettbewerb ist erst einmal nicht moralisch aufgeladen, gleichwohl aber sehr positiv besetzt. Er gehört zu den vermeintlich selbstevidenten "Einsichten", die in aller Regel nicht mehr hinterfragt werden: Wettbewerb ist immer gut, kann nie schaden. Auf dem Markt sowieso nicht: Wettbewerb sorgt für die Auslese der Besten und dafür, dass die Schlechten ausscheiden. Die Marktkonkurrenz regelt, dass jeder bekommt, was er braucht, und zwar zu den denkbar tiefsten Preisen. Wettbewerb steht für ständige Innovation, für permanenten Fortschritt und für Effizienz. Wettbewerb soll schließlich für Gerechtigkeit sorgen, für die angemessene Verteilung von Privilegien und Sanktionen. Jeder bekommt das, was er verdient, ganz nach seinem Wettbewerbserfolg und nach seiner Leistung. Was gerecht ist, bestimmt der Markt.
Wo die unsichtbar ordnende Hand des Wettbewerbs nicht walten kann, erlahmt die Entwicklung, kommen die Untüchtigen zum Zuge, werden Mittel verschwendet und gehen Volkswirtschaften und Gesellschaften auf Dauer zugrunde. Mit "Konkurrenz" verbinden wir spontan Bewegung, Dynamik, Anstrengung. Das mag ja auch gar nicht so ganz falsch sein. Seltsam ist nur, dass viele bei Abwesenheit von Konkurrenz auch sogleich auf Schlendrian, Kungelei oder auch ganz einfach Stillstand schließen, so als gäbe es überhaupt keine andere Form des kreativen Miteinanders. Als wäre Konkurrenz konkurrenzlos.
Ich war vor einiger Zeit mit meiner Familie in Havanna. Auf einer belebten Prachtstraße im alten Zentrum der Stadt trafen wir auf eine deutsche Touristin, die mit einer Reisegruppe unterwegs war. Die wunderschönen, noch aus dem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts stammenden, herrschaftlichen Gebäude, die die Straße links und rechts säumten, waren, wie sie in Havanna so sind: von morbidem Charme, mit unübersehbaren Spuren des Verfalls, manches Mal auch mehr als nur Spuren. Die Dame mittleren Alters, die wir trafen, drängte es ganz offensichtlich, uns zu erklären, weshalb die Bauten in diesem Zustand seien: weil die Menschen im Kommunismus kein Privateigentum haben dürften. Deshalb kümmere sich seit der Revolution keiner mehr um irgendetwas. Der Verfall der Häuser sei ganz typisch ...
Wirtschaftsembargos schaden Kuba
Dass Kuba seit der Revolution einem gnadenlosen Wirtschaftsembargo durch die USA ausgesetzt ist und seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch aus dem Osten kaum noch Hilfen bekommt, dass Kuba kaum über Baumaterial verfügt und bettelarm ist, dass dieses Land es dennoch geschafft hat, ein vorbildliches Bildungs- und Gesundheitssystem für alle Menschen aufzubauen – und zwar ganz ohne Wettbewerb und Privateigentum –, spielte für sie überhaupt keine Rolle, fand in ihrem Denken und in ihren Erklärungen der Welt und Havannas keinen Platz. Was mich diese Begegnung einmal mehr lehrte: Wir sehen offenbar nur, was unsere Denkweisen und Vorurteile bestätigt, selbst dann, wenn wir es besser wissen müssten, wenn die Fakten ganz anderes nahelegen. Für Zweifel oder Selbstzweifel gibt es dabei keinerlei Raum.
So will es nicht verwundern, dass wir die Schattenseiten des Wettbewerbs zwar durchaus irgendwie zur Kenntnis nehmen, aber überhaupt nicht reflektieren. Es gibt keinen Wettbewerb ohne Verlierer. Die Schattenseiten sind Egoismus, Niederlagen und Ausschluss. Aus Ersterem macht der Neoliberalismus gar keinen Hehl. Ganz im Gegenteil: Der maximale Eigennutz ist nach dessen Lesart Antrieb und Ziel der ganzen Veranstaltung zugleich. Denn nur, wenn ein jeder sich um seinen eigenen Vorteil bemüht, könne der Markt seine "segensreichen" Kräfte entfalten: "faire" Preise, gute Versorgung, engagierte Marktteilnehmer, Wohlstand für alle. Da Altruismus auf dem Markt nichts verloren habe, ja geradezu schädlich sei, läuft die neoliberale Betrachtungsweise auf eine Art Generalabsolution für jegliche Form von Egozentrik, Eigensucht und sogar Gier hinaus. Es ist die Befreiung der Marktteilnehmer von ihren humanistischen Fesseln, vom latent schlechten Gewissen im täglichen Kampf gegeneinander. Endlich darf es mal gesagt werden: "Geiz ist geil."
8 Kommentare verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
am 27.02.2017Oha! Ja wie? Ja was? Es sind die Akteure, die sich in gesellschaftlicher Verantwortung befinden - eifrig mit dem Zerlegen zeigend!
Was auch so lange erfolgreich von den Akteuren bewerkstelligt werden wird, solange die…