Diese Einstellung herrscht in weiten Teilen der EU vor, aber auch in der deutschen Regierung, so beispielsweise, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Vision einer "marktkonformen Demokratie" definiert. Sie hat in ihrer Regierungserklärung vom September 2011 den Markt, sprich: die maßgeblichen Unternehmen der Wirtschaft, zum entscheidenden Faktor erklärt, dem der demokratisch legitimierte Gesetzgeber zu entsprechen hat. Aufgabe der Regierung ist es, dafür zu sorgen, dass er das tut. Das Parlament ist auf Mitbestimmung reduziert, Gestaltung, Kontrolle oder gar Entscheidungen gegen Marktinteressen sind damit vom Tisch!
Die Merkel-Vision ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar
Die Merkel-Vision ist jedoch nicht nur mit Grundgesetz und völkerrechtlichen Bestimmungen unvereinbar. Sie ist darüber hinaus politisch besonders gefährlich, weil sie auf tückische Weise formal die Institutionen der Demokratie, also Wahlrecht und Parlamente, unangetastet lässt, aber gleichzeitig über den Regierungsapparat und – in der EU beispielsweise über den bestimmenden Einfluss des Europäischen Rates auf völkerrechtlich verbindliche Abkommen wie CETA oder TTIP – dafür sorgt, dass die Parlamente letztlich nur Entscheidungen nachvollziehen, die durch den Markt, also die oben erwähnten Unternehmen, bereits inhaltlich festgelegt sind. Auch die Zivilgesellschaft kann auf kommunaler, auf Landes- oder sogar EU-Ebene in Demonstrationen und Bürgerinitiativen ihre Überlegungen zu politischen Fragen äußern; das aber läuft wegen der inhaltlichen Vorab-Festlegung nach Marktinteressen letztlich ins Leere.
Es versteht sich von selbst, dass solches Handeln die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Politik, ja ihre Wut, auch in Deutschland anfacht: Die Überschrift "EU-Bürger: Privat ganz zufrieden, politisch frustriert" eines "Spiegel"-Artikels (9. 8. 2016) fasst die Ergebnisse neuester Umfragen über die Stimmung in den meisten EU-Ländern präzise zusammen und bringt sie auf den Punkt.
Bekanntlich existiert in der EU ein direkt gewähltes Parlament; insgesamt jedoch beherrscht der Europäische Rat der Mitgliedsregierungen Inhalte und Verfahren der EU-Politik. Das hat sich auch nach dem Schock des Brexit nicht geändert: Auch die EU-Politik des "Weiter-so" dauert fort. Unverändert. Wer auf Fehleranalyse, gar auf Selbstkritik gehofft hatte, sieht sich enttäuscht: Weder aus der EU-Kommission noch aus dem Europäischen Rat der Mitgliedsregierungen kommen Anstöße für die Stärkung demokratischer Elemente, um das schwindende Vertrauen der Zivilgesellschaft zu stärken.
Geradezu ärgerlich deutlich machte das die Ankündigung von EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker, das CETA-Freihandelsabkommen mit Kanada im Herbst unverändert durchzuziehen. Dass er dann auch noch verkündete, die Parlamente der Mitgliedstaaten hätten keinerlei Ratifizierungskompetenzen, weil CETA ein ausschließlicher EU-Vertrag sei, war der Bogen jedoch überspannt: Juncker musste seine Erklärung wegen des heftigen Widerstands der Zivilgesellschaft schnell wieder zurückziehen.
Gabriels Ja zu CETA gleicht Schröders Agenda
Seine inhaltliche Einstellung hat das freilich nicht verändert, denn Juncker kündigte an, das im Lissabonner Vertrag enthaltene, aber grundsätzlich gegen Kontrollkompetenzen und parlamentarische Partizipation gerichtete Instrument der Vorab-Inkraftsetzung einzusetzen. Im Klartext bedeutet das, dass Entscheidungen nationaler Parlamente weitgehend ins Leere laufen, weil die EU dem CETA-Vertrag lange davor rechtliche Geltung verschafft hat.
Trotz des europaweiten Widerspruchs der Zivilgesellschaft bestehen kaum Zweifel daran, dass der Europäische Rat diesen Fahrplan mit der nötigen Mehrheit billigen wird. Auch Merkels Regierung wird wohl nicht eingreifen, nachdem der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) in trauriger Nachfolge der Nach-Vogel-Vorsitzenden seine Kanzlerkandidatur, wie man hört, von der mehrheitlichen Zustimmung der SPD zu CETA abhängig macht. Die katastrophalen Auswirkungen dieses politischen Fehlers werden denen nach Gerhard Schröders Agenda-Entscheidung gleichen.
Arno Luik, wie viele andere Kommentatoren der Lage in der EU und ihres Demokratie-Defizits, beschränken sich auf die Darstellung von Vertrauensschwund und Reformunfähigkeit und beschwören dann die Gefahr von Nationalismus und Zerfall der EU. Ich halte das für zu kurz gegriffen, weil dabei Faktoren übersehen werden, die in die Gegenrichtung weisen, mit denen der Vertrauensschwund gestoppt und eine Veränderung mit dem Ziel einer demokratisierten und damit stärkeren EU angestoßen werden kann, deren Politik auf die alten Ziele von Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit ausgerichtet ist.
Wichtigstes Element ist das Erstarken der Zivilgesellschaft
Zu diesen Faktoren können Entscheidungen von Gerichten gehören, die in mehreren Mitgliedstaaten derzeit angestoßen werden. Wichtigstes politisches Element ist jedoch das Erstarken der Zivilgesellschaft in den meisten EU-Mitgliedstaaten. Auch auf EU-Ebene organisiert sich die Zivilgesellschaft immer wirksamer; auch die Zahl der europäischen Bürgerinitiativen.
Alles das trägt zu einem wachsenden gemeinsamen europäischen Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger Europas bei; es reicht noch nicht aus, um die Unzerstörbarkeit Europas zu garantieren. Dafür sind mehr und stärkere Initiativen auf allen Bereichen zur Herausbildung von mehr gemeinsamem europäischen Wissen, von mehr Gemeinsamkeit in den Interessen und Zusammengehörigkeit bei allen Unterschieden der Bedingungen in den Mitgliedstaaten nötig.
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Gela
am 21.08.2016