Manchmal werden selbst präsidiale Worte zu Schall und Rauch. Eine Erfahrung, die auch dem stets staatsmännisch auftretenden grünen Ministerpräsidenten aus Stuttgart nicht erspart bleibt. Im Januar noch stellte sich Winfried Kretschmann auf den Radolfzeller Naturschutztagen hinter das geplante transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP. Es sei aberwitzig, wenn Baden-Württemberg als eine weltweit bedeutsame und vom Export abhängige Industrieregion ein Freihandelsabkommen mit den USA grundsätzlich ablehne. Statt Hasenfüßigkeit empfahl er Europa ein offensives Vorgehen bei der Ausgestaltung des Vertragswerks. "Ich weiß gar nicht, warum wir da Angst haben müssen: Die USA ist kein großer Bruder von uns. Wie verhandeln mit denen auf Augenhöhe ...", <link http: www.deutschlandfunk.de external-link-new-window>zitiert der Deutschlandfunk den Ministerpräsidenten.
Doch das sagte Kretschmann offenbar, ohne genau zu wissen, worüber er sprach. Vier Monate und einen Wahlsieg später veröffentlichte Greenpeace Niederlande Anfang Mai <link https: ttip-leaks.org external-link-new-window>die aktuellen geheimen TTIP-Verhandlungsprotokolle. Aus Sicht der Umweltschutz-Organisation bestätigen die Papiere die schlimmsten Befürchtungen der TTIP-Kritiker. Auf 248 Seiten lasse sich nachlesen, wie die USA die Europäer unter Druck setzen. So soll die europäische Autoindustrie ihre Fahrzeuge nur ungehindert in die USA exportieren dürfen, wenn die Amerikaner im Gegenzug mehr landwirtschaftliches Erzeugnisse nach Europa liefern dürfen, darunter auch umstrittene Genprodukte.
Auch seien trotz gegenteiliger Beteuerung hiesiger TTIP-Protagonisten europäische Schutzstandards gefährdet: durch die sogenannte regulatorische Kooperation, die auch rückwirkend eine Aufhebung von Standards und Gesetzen ermöglicht, wenn diese den Handel behindern. So offenbarten die Unterlagen, dass die Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel oder das EU-Chemikalienrecht REACH den Amerikanern ein Dorn im Auge ist. Die USA wollen, dass Stoffe nur dann verboten werden können, wenn vorher ihre Schädlichkeit belegt ist. REACH hingeben basiert auf dem Vorsorgeprinzip: Seit 2007 müssen alle Chemikalien in der EU registriert werden; ihre Unschädlichkeit muss nachgewiesen sein. Mehrere Tausend Chemikalien wurden nicht zugelassen, da eine schädliche Wirkung nicht auszuschließen ist. "Dieses Prinzip sieht die USA als Handelshemmnis", so Greenpeace.
In diesem Bereich kollidieren die US-Vorstellungen beispielhaft mit einem Eckpunktepapier vom März 2015, mit dem sich <link https: www.baden-wuerttemberg.de fileadmin redaktion dateien pdf external-link-new-window>die bisherige grün-roten Regierungskoalition in Stuttgart zum umstrittenen TTIP-Abkommen positionierte. "Die Sicherung des Vorsorgeprinzips insbesondere im Verbraucherschutz- und Umweltbereich ist zwingend geboten. Die parlamentarische Hoheit über die Definition von Standards und Zulassungsverfahren muss dabei sichergestellt bleiben", heißt es darin. Doch das ist nicht der einzige Punkt, an dem Wunsch und Wirklichkeit auseinanderlaufen. Weitere der insgesamt 15 Eckpunkte des Landes spiegeln sich nicht im momentanen Stand der TTIP-Verhandlungen wieder. Aus Stuttgarter Sicht garantieren etwa die nationalen Justizsysteme dies- und jenseits des Atlantiks einen anspruchsvollen Investitionsschutz, sodass es weder der umstrittenen Schiedsgerichte noch gesonderter Handelsgerichtshöfe bedarf.
Grün-rotes Eckpunktepapier gilt auch für Grün-Schwarz
Auch für die neue baden-württembergische Landesregierung ist TTIP ein Thema. Vorstellungen über faire und transparente Handelsabkommen fixierten die grünen Wahlsieger mit dem Juniorpartner CDU im Koalitionsvertrag, der allerdings vor der Veröffentlichung der geheimen TTIP-Protokolle aufgesetzt wurde. In internationalen Handelsvereinbarungen lägen aus Landessicht Chancen, aber auch Risiken, schrieben die Koalitionäre darin. Die Zustimmung zu jeder Vereinbarung werde man von der Einhaltung der für die EU vereinbarten Standards beim Verbraucher-, Umwelt- und Datenschutz sowie bei Gesundheitsversorgung, kommunaler Daseinsvorsorge, Kultur, Bildung und öffentlicher Gerichtsbarkeit bei Investor-Staats-Klagen abhängig machen.
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Stuttgarterin
am 28.05.2016