Jogersts Lösung: Er versieht die Pforte mit einem Codeschloss und hängt die Zahlenfolge daneben. So können alle kommen und gehen – bis auf die Dementen. Zusätzlich lässt Jogerst einen roten Alarmknopf daneben anbauen, falls eine Bewohnerin oder ein Bewohner unbedingt hinauswill. Dazu gibt es – ein wenig versteckt – einen Nebenausgang ohne Schloss. Eine pragmatische Lösung. Der Amtsrichter segnet die Konstruktion ab – Jogersts Heim gilt weiter als nicht geschlossene Einrichtung. Doch dann wird der Richter krank.
"Eines Tages kommt sein Vertreter vorbei und sagt: 'Sie wissen, dass sie hier jeden Tag mit einem Bein im Gefängnis stehen?'", erzählt Jogerst. Weil das hier eine geschlossene Unterbringung sei. Freiheitsentzug in 36 Fällen. Jogerst hat schlaflose Nächte. Monatelang argumentiert er für seine Lösung. Schaltet Renchens Bürgermeister ein. Den Rechtsbeistand der Stadt. Alle Angehörigen und rechtlichen Betreuerinnen und Betreuer sind mit dem Codeschloss einverstanden, nur der Richter nicht. Auch die Angehörigen will er verklagen. Anderthalb Jahre dauert der Streit. Dann wird der alte Richter wieder gesund. Und der Konflikt löst sich auf wie eine Fata Morgana.
Immer unter Generalverdacht
Dieser Fall sei symptomatisch, sagt Jogerst. Er ist wütend auf all jene, die den Status quo verwalten, anstatt das System zu verbessern. Auf die Pflegekassen, die Sozialhilfeträger, die Politik. "Es geht nur noch um den Machterhalt derjenigen, die das Geld verteilen", sagt Jogerst. Jedes Mal, wenn die Gefahr besteht, dass zu viele Probleme an die Öffentlichkeit durchbrechen, kommt eine neue Behörde, eine neue Regel, die den Deckel noch fester draufpresst auf den brodelnden Topf. In einem fort ändern sich die Vorschriften in der Pflege. Wo lagere ich welche Dokumente? Wie dokumentiere ich Essen und Trinken? Welche Standards gibt es? Bei wem und wie beantrage ich einen neuen Rollstuhl?
Pfleger, sagt Jogerst, stehen unter Generalverdacht. Heimaufsicht, Medizinischer Dienst der Krankenversicherung, Pflegekasse, Sozialhilfeträger, Gesundheitsamt. Und während die Bürokratie über die Jahre immer mehr wird, gibt es weder mehr Geld noch mehr Personal. Auch die Bauvorschriften ändern sich regelmäßig. Aktuell sind die Zimmer in der Villa Auguste zu eng, in einem fünf Jahre alten Heim. Muss Jogerst es jetzt umbauen? Bei den schwer dementen Bewohnerinnen und Bewohnern im dritten Stock hat Jogerst ein Bett in den Essbereich stellen lassen, damit auch die Schwächsten mal aus ihrem Zimmer kommen. Ein Bett im Essbereich? Nicht erlaubt. "Na und?", sagt Jogerst. "Es zählt doch, dass die Senioren so lange wie möglich fit bleiben." In seinem Heim gebe es derzeit niemanden, der bettlägerig sei. "Wenn ich, um das zu erreichen, Regeln brechen muss, dann ist das eben so", sagt Jogerst.
Sein erstes Seniorenhaus feiert in diesem Sommer seinen zehnten Geburtstag. Von allen Seiten erntet Jogerst Anerkennung. Erst vor wenigen Wochen hat ihn der Stadtrat überschwänglich gelobt. Aber Geld verdienen? "Ich wache morgens mit vier Millionen Euro Schulden auf und gehe abends mit vier Millionen Euro Schulden ins Bett", sagt er. Eine Pommesbude hätte sich besser gerechnet.
Menschenwürdige Pflege wäre finanzierbar
Die Pflege leidet seit Jahren daran, dass die Pflegekräfte ausgepresst werden. Von der Politik. Vom Renditestreben der großen Betreiber. Lange haben die Pflegerinnen und Pfleger still gehalten. In den vergangenen Jahren fingen sie an, sich zu wehren. "Pflege am Boden" heißt eine Bewegung, in der sich auch Marcus Jogerst engagiert. Regelmäßig legen sich Pflegerinnen und Pfleger gemeinsam mit Angehörigen auf zentralen Plätzen hin, um auf ihre Überforderung aufmerksam zu machen. Auch in Facebook-Gruppen finden sich die Pflegekräfte zu Tausenden zusammen. Und an der Berliner Charité war vor Kurzem zum ersten Mal ein Streik erfolgreich, in dem Pflegekröfte nicht mehr Gehalt forderten, sondern mehr Personal. So sehr drückt die Arbeitslast.
Jogerst hat Demonstrationen in Renchen und Achern organisiert, an die Landessozialministerin in Baden-Württemberg geschrieben und an Finanzminister Wolfgang Schäuble. In Berlin hat er sich mit dem Pflegebeauftragten der Bundesregierung getroffen. Er will endlich mehr Geld für die professionelle Pflege. Bislang erfolglos. Aber er will weiter kämpfen. Er will, dass er sein Heim so betreiben kann, wie er es tut – ohne sich und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auszubeuten. Alle Heime sollten so arbeiten können. Mit Ruhe. Mit leckerem Essen. Mit guten Ideen. Mit einer menschenwürdigen Pflege der alten Menschen. Das wäre finanzierbar. Die Politikerinnen und Politiker müssten es nur wollen.
Der Autor ist Senior Reporter des gemeinnützigen Recherchezentrums correctiv.org und hat ein Buch über Marcus Jogerst und den Kampf um gute Pflege geschrieben. "Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht" kann unter shop.correctiv.org bestellt werden. Informationen über alle deutschen Pflegeheime gibt es <link https: correctiv.org recherchen pflege wegweiser _blank external-link>unter diesem Link.
7 Kommentare verfügbar
Gela
am 04.07.2016