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Heißer durch S 21

Heißer durch S 21
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Dank rund hundert Stunden Schlichtung ist Stuttgart 21 dokumentiert bis in alle Ewigkeit. So dass, wenn es demnächst noch heißer sein wird in der Stadt, niemand wird behaupten können, von der Bedeutung von Grünflächen und Gleisen im Talkessel nichts gewusst zu haben.

Da könnte sich die Deutsche Bahn mal ein Beispiel nehmen. Linken-Stadtrat Tom Adler hat auf der 429. Montagsdemo das alte, an der Stuttgarter Uni geborene SDS-Plakat umgedichtet: "Alle reden vom Wetter. Wir auch" statt "Wir nicht." Den Grund musste bei 30 Grad im Schatten auf dem Stuttgarter Schlossplatz niemand suchen. Das Wetter ist längst ein Thema, das Lenin, Marx und Engels beschäftigen würde und die Bahn beschäftigten müsste. Zumal sie das Copyright hat auf den aus dem Jahr 1966 stammenden Spruch, den die Werbeagentur McCann Erickson unter einer Zugmaschine im Schneegestöber textete. So wie wenig später die Kampagne "Auto des Jahres" für die neuen E-Loks. Das waren noch Zeiten.

Aber die Bahn will und wollte nicht vom Wetter sprechen. Auch nicht bei der so genannten Schlichtung im Spätherbst 2010, als der erste große Hitzesommer mit 70 000 Toten und zwölf Milliarden Euro Schäden allein in Deutschland, Frankreich, Italien, Portugal, Rumänien, Spanien und Großbritannien schon sieben Jahre zurücklag. Statt über Konsequenzen daraus nachzudenken, wurde der Tiefbahnhof Stuttgart 21 als Ökoprojekt gepriesen, schöngefärbt und camoufliert etwa beim Thema Ausgleichsflächen.

Unverdrossen werden Flächen versiegelt

Noch vor der Volksabstimmung im November 2011 hatte sogar die Bundesregierung eine Klimaschutznovelle gestartet, wonach "Bau- und Stadtplanung dem Klimaschutz und der Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels gerecht werden muss". Vor allem unter den Gesichtspunkten von Frisch- und Kaltluftzufuhr in den Innenstädten oder der "Grün- und Freiraumsicherung unter Anerkennung des Kühlungspotenzials des Bodens". Dennoch spielten solche Aspekte im Abstimmungskampf kaum eine Rolle. Eher im Gegenteil: Bahn und Befürworter durften sogar verbreiten, dass "S 21 zusätzliche Grünflächen schafft und den Verbrauch wertvoller Flächen im Außenbereich reduziert".

Tatsächlich verhält es sich genau anders herum: In der hitzeanfälligen Innenstadt werden durch das Projekt unverdrossen Flächen versiegelt. Und viel zu viele der verlangten Ausgleichsflächen von insgesamt 14,5 Hektar liegen irgendwo draußen, etwa im Mussenbachtal in Mühlhausen, wo der Klimawandel auch, aber deutlich reduzierter spürbar ist als in der City. Werden doch für den Talkessel in der Anpassungsstrategie des Landes die Schaffung von "'Kühlstuben' (Hitzeentlastungsräume)" oder die Bereitstellung von Kühlwesten zur Entlastung durch Kaufhäuser oder die öffentliche Hand als mittelfristig dringlich einstuft.

Kühler durch Schotter

Warum "es sich bei den Gleisanlagen um eine für den innerstädtischen Luftaustausch wichtige Fläche handelt", legte schon Ende der 1990er die Abteilung für Stadtklimatologie im Stuttgarter Rathaus dar: Durch die nur oberflächliche Erwärmung gibt das Schotterbett der Gleise nach heißen Sommertagen nachts sehr schnell Wärme ab. Tagsüber erwärmen sich die Gleisanlagen zwar stärker als Park- oder Freilandflächen, kühlen aber bis in die Morgenstunden fast ebenso stark wie diese und weit stärker als Siedlungen ab. Diese Temperaturdifferenz in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt führt zu Wind, und dieser Luftaustausch macht an Hitzetagen zumindest nachts das Klima erträglicher. Darüber hinaus begünstigen die Gleisanlagen auch tagsüber den Luftaustausch: "Das heutige Bahngelände – obgleich ein künstliches, das Relief des Talbodens stark veränderndes Bauwerk – kann aufgrund seiner Hindernisstruktur vom Wind leicht überströmt werden". (os)

Wenn Kopfbahnhof-BefürworterInnen auf die ökologische Bedeutung der großen alten Bäume und der grünen Lunge mitten in der Stadt zu sprechen kommen, kontern S 21-AnhängerInnen gern mit den von der Deutschen Bahn initiierten Neupflanzungen. Noch ein schlechter Witz, denn die Bäume sind jung und schmächtig. Im Gegensatz zu den gefällten Rotbuchen, oft über hundert Jahre alte Riesen mit enormer Leistungsfähigkeit. Jede produziert mehr als 9000 Liter Sauerstoff am Tag, verdunstet bis zu 400 Liter Wasser, kühlt die Umgebung um bis zu drei Grad Celsius herunter und bindet 170 Tonnen Kohlendioxid. Immerhin 84 Bäume aus dem Schlossgarten, Rot-, Blut- und Hainbuchen, Platanen, Birken oder Ahorn, sind umgepflanzt worden. Viele, etwa auf der Feuerbacher Heide, haben auch dank der weiterhin intensiven Pflege durch städtische GärtnerInnen überlebt.

Gleisvorfeld – wichtig für den Hitzeausgleich

Bei der Schlichtung legte Gerhard Pfeifer vom BUND, einer der Projektgegner der ersten Stunden, zur Überraschung mancher Befürworter anhand von Zahlen der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden Württemberg dar, rund 5000 neue Bäume müssten den Verlust bis etwa 2040 ausgleichen. Was aber quantitativ nicht möglich ist und zeitlich inzwischen ohnehin nicht. Denn damals verkündete die Bahn noch, 2021 werde S 21 fertig sein.

Noch heftiger wird die Stadt im Klimawandel die Bebauung der freiwerdenden Gleisflächen treffen. Der ehemalige Leiter der Stuttgarter Abteilung für Stadtkliamtologie und Uni-Professor Jürgen Baumüller schilderte vor bald acht Jahren – und alles andere als zum ersten Mal – die drastischen Veränderungen, die der Landeshauptstadt blühen, wenn klimatologische Zustände herrschen werden wie heute in Rom oder noch südlicher. Wenn sich wochenlang Tropennächte an Tropennächte reihen und um den Fernsehturm herum Palmen wachsen könnten.

Baumüller präsentierte Folien von farbiger Prägnanz, die übrigens größtenteils auf seiner früheren Arbeit für die Stadt beruhten, der Untersuchungsreihe <link https: www.stadtklima-stuttgart.de _blank external-link-new-window>"Stadtklima Stuttgart 21". Seine Analyse: "Die Gleisflächen kühlen erfahrungsgemäß in der Nacht sehr stark ab, mehr als der Schlossgarten." Und weiter: "Stuttgart 21 wird das Stadtklima verschlechtern, um wieviel, hängt von der Frage ab, in welcher Dichte und in welcher Höhe man im Städtebau das Gelände nutzen will." Hundertfach, sagt Stadtrat Adler auf dem Schlossplatz im Schatten der Demo-Bühne, habe Baumüller seither erklärt und vorgerechnet, "was auf Stuttgart und seinen Kessel zukommt, wenn weiter Bäume gefällt, Grünflächen bebaut und Böden versiegelt werden, wenn das für den Hitzeausgleich bedeutende Gleisvorfeld bebaut wird". Aber "blind und ignorant" wollten SPD und "diese selbsternannte Elite von Wieland Backes' Aufbruch Stuttgart" den Akademiegarten beim Neuen Schloss zur Abholzung freigeben, für eine Interims-Oper oder eine neue Philharmonie.

Beste Klimaanlage kommt aus der Natur

Dabei reagiert die Stadt wegen ihrer Kessellage und aufgrund der Windverhältnisse bekanntlich noch viel sensibler als andere Kommunen auf derartige Eingriffe. Und seit Jahren dringend anempfohlen ist ohnehin genau das Gegenteil von Abholzungen und Baufreigaben. "Die beste Klimaanlage kommt aus der Natur", heißt es in einem Papier der EU-Generaldirektion Umwelt, die fortwährend immer neue Maßnahmen zum Klimaschutz empfiehlt. Denn: "Städtische grüne Infrastruktur verringert den Effekt des lokalen Aufheizens deutlich, etwa Parks, landwirtschaftliche Flächen, offene Wasserflächen, Alleen und begrünte Gebäude".

30 Grad Celsius Lufttemperatur werden in bebauter, asphaltierter Umgebung, in der große Komplexe auch noch gespeicherte Wärme abgeben, wahrgenommen wie 40 oder gar 45 Grad. Wenn große Bäume auf innerstädtischen Wiesen stehen, werden aus 30 Grad gefühlte 25. Zusätzlich zur nächtlichen Kühlung könnten Gleise eine Wasserrückhaltefunktion übernehmen und begrünt werden. Die Fachleute von <link http: www.gruengleisnetzwerk.de index.html _blank external-link-new-window>Grüngleisnetzwerk, dem viele städtische Verkehrsunternehmen angehören – darunter die SSB –, haben die Potenziale errechnet. Begrünte Gleisanlagen heizen sich in Hitzesommern um bis zu 35 Grad Celsius weniger auf und können so ganz erheblich Innenstadttemperaturen senken helfen.

"Der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung", hatte der Architekt Roland Ostertag 2010 bei der Schlichtung erläutert. Es war ziemlich still im Sitzungssaal des Rathauses, als er die Unterschiede in den Herangehensweisen herausarbeitete: Auf der einen Seite die Befürworter "ungehemmter Technik, ungehemmten Kapitalismus, der Ökonomismus und die Ziele im Einzelnen: Geschwindigkeit, Tempo, Fahrzeitverkürzung, Machbarkeit, Wachstum, höher, weiter, schneller, alles mess- und quantifizierbar, Hektar, Euro, Sekunden, Quadratmeter". Und auf der anderen Seite: "Wir, die wir uns an den schwachen Kräften orientieren: der Natur, der Ökologie, des Sozialen – diese sind überhaupt noch nicht erwähnt worden , kulturellen, emotionalen, geschichtlichen, den atmosphärischen, ja, den menschlichen Dimensionen, den Themen geistig-räumliche Mobilität, Denkmalschutz, Gedächtnis der Stadt, den Menschen, Stadt als Organismus".

S-21-Planfeststellungsbeschluss zum Klima

Ein Klima-Schmankerl aus dem 2005 ergangenen Planfeststellungsbeschluss für den Abschnitt 1.1. von Stuttgart 21: "Zur Beeinträchtigung der klimatischen Situation kommt es baubedingt vor allem im Mittleren Schlossgarten durch die Errichtung der neuen unterirdischen Bahnhofshalle. Durch die Inanspruchnahme und Überbauung dieser klimatisch und lufthygienisch ausgleichenden Freiflächen wird deren Funktion als Ventilations- und Kaltluftabflussbahn beeinträchtigt". Einige Seiten später wird dieser Effekt plötzlich kräftig relativiert: "Durch die Modellierung der teilweise unterirdischen Bahnhofshalle wird die Wirkung als Querriegel jedoch reduziert und die Beeinflussung der bestehenden Kaltluftventilationsbahn entschärft, so dass langfristige Auswirkungen auf die Luftströme ausgeschlossen sind". Was nun plausibler klingt, darf sich der geneigte Leser aussuchen. (os)

Der Organismus leidet heute schon deutlich mehr als 2010. In wenigen Jahren wird er noch mehr ächzen, mit einer prognostizierten Wärmebelastung von zeitweise 40 und sogar in Richtung 50 oder 60 Grad Celsius. "Kein ernst zu nehmender Mensch, Sozialist oder nicht, kann heute das Reden über Wetter und Klima noch als belanglos abtun", mahnt Adler. Die Stuttgart-21-GegnerInnen hätten "im Lauf unseres langen Kampfes gegen das zerstörerische Projekt viel über die Zusammenhänge von Konzerninteressen, Verkehrspolitik, Klimaschutz- und sozialer Wohnungspolitik gelernt". Darauf könne man "ein bisschen stolz sein und entschlossen weiter an all diesen Themen dranbleiben". Am Megathema Klimawandel erst recht: "Alle reden vom Wetter. Wir auch."


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8 Kommentare verfügbar

  • Sepp Obergscheid
    am 02.09.2018
    Antworten
    Wir sollten in jede Metropole mindestens 200 Ha für Schotter- und Gleisflächen schaffen.
    Größe Flächen aus Schotter und Stahl sind wichtig für das Stadtklima. Und für die ganze Welt. Und helfen gegen Rheuma.

    Ohje, auf was man alles kommen kann... Man könnte sowas auch im Postillon…
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Ausgabe 709 / Bedeckt von braunem Laub / bedellus / vor 1 Tag 1 Stunde
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