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Stuttgart 21 und Ergänzungsmaßnahmen

Um den Tunnelhalt herum

Stuttgart 21 und Ergänzungsmaßnahmen: Um den Tunnelhalt herum
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Der Ergänzungsbahnhof, der Kapazitätsengpässe bei Stuttgart 21 abfedern sollte, ist auf Eis gelegt. Stattdessen stellt Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) ein Gutachten mit neuen Ergänzungsmaßnahmen vor, die vor allem ein Ziel haben: Verkehr vom Nadelöhr Tiefbahnhof fernhalten.

Zwei grob parallele Linien, schnell gezeichnet mit Kugelschreiber, das sollte der Stuttgart-21-Tiefbahnhof sein, dann im rechten Winkel dazu ein paar weitere Striche: Eine frühe Visualisierung von Winfried Hermanns Idee eines Ergänzungs-Kopfbahnhofs konnte Kontext-Fotograf Joachim E. Röttgers Ende Dezember 2018 einfangen. Damals führte Kontext ein Interview mit dem baden-württembergischen Verkehrsminister, es ging um den schon lange desolaten Gesamtzustand der Deutschen Bahn (nicht besser geworden) und um die Probleme und Mühen mit S 21.

Das milliardenschwere Großprojekt bezeichnete Hermann damals als "grandiose Fehlentscheidung" und "anfälliges Engpasssystem". Und um dessen Risiken abzufedern, schwebte ihm da schon ein ergänzender Halt nahe der geplanten unterirdischen Durchgangsstation vor. Doch in die Öffentlichkeit tragen wollte er das Konzept noch nicht, da brauche es Vorbereitung, sonst würde die Idee vorschnell "zerredet".

In die Öffentlichkeit kam die Idee dann ein halbes Jahr später, am 16. Juli 2019, und zwar in Form eines unterirdischen Ergänzungs-Kopfbahnhofs. Sofort sorgte das für heftigen Widerspruch bei der Stadt Stuttgart und beim Regionalverband.

Schon zuvor hatten die Mehrheit des Stuttgarter Gemeinderats und der grüne Baubürgermeister Peter Pätzold deutlich gemacht, unter keinen Umständen auch nur einen Quadratzentimeter der Flächen abzutreten, auf denen nach der Tieferlegung des Bahnhofs ein neues Stadtviertel entstehen soll. Die Ergänzung unterirdisch umzusetzen, war also schon eine Form des präventiven Entgegenkommens. Gebracht hat es trotzdem nichts; die Mehrheit im Rathaus fürchtete weiterhin Einschränkungen beim Wohnbau und wollte ohnehin nicht an der Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 zweifeln.

Dennoch schaffte es die Idee in den grün-schwarzen Koalitionsvertrag 2021 (Kontext berichtete) : Dort wurde unter dem Schlagwort "Eisenbahnknoten Stuttgart 2040" unter anderem eine Verdopplung der Fahrgastzahlen als Ziel ausgegeben, die Koalitionspartner vereinbarten: "Wir setzen uns aktiv für weitere Ergänzungen ein, die die Kapazitäten von Regionalverkehr und S-Bahn (...) erweitern." Als ein Element wurde dabei auch "die Ergänzungsstation und ihre Zuläufe" genannt. Die Südwest-CDU habe damit "eingeräumt, dass der S-21-Tiefbahnhof nicht hält, was seine Fans so lange versprochen haben", war damals in Kontext zu lesen.

Der politische Gegenwind blieb bis zuletzt

Das war vermutlich zu optimistisch. Weder auf Landes- noch auf Regional- noch auf Stadtebene machten sich CDU-, FDP- oder SPD-Vertreter:innen für den Ergänzungshalt stark, im Stuttgarter Gemeinderat nicht mal Hermanns grüne Partei-Freund:innen.

Und auch bei Stuttgart-21-Gegnern stieß die Idee auf wenig Gegenliebe, weil es, kurz gesagt, als falsche Lösung für ein richtig erkanntes Problem – den Engpass Tiefbahnhof – gesehen wurde. Als Lösung, die durch die unterirdischen Strukturen große Mengen an Treibhausgas-Emissionen bedeuten würde. Und weil der bestehende Bahnhof nach wie vor die bessere Option sei.

Nüchtern betrachtet zeugt das Vorhaben, auf seine Essenz reduziert, zweifellos von einer gewissen Absurdität: In Stuttgart soll mit S 21 ein funktionierender Kopfbahnhof durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzt werden. Und weil sich irgendwann zeigt, dass der unterirdische offenbar nicht genug wird leisten können, soll er durch einen kleinen Kopfbahnhof ergänzt werden. Zu diesem Zweck soll nicht etwa ein Teil des alten Kopfbahnhofs an der bestehenden Stelle belassen, sondern die alten Gleise sollen erst einmal abgerissen und dann neue tiefer gelegt werden. Damit oben gebaut werden kann.

Doch offenbar war es nicht diese Absurdität, die dafür sorgte, dass der Ergänzungshalt nun auf Eis gelegt ist. Und auch nicht der politische Gegenwind. Sondern, so Hermann, die Wissenschaft, genauer, ein Gutachten des Verkehrswissenschaftlichen Instituts der Uni Stuttgart (VWI) in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Verkehrsberatungsbüro SMA. Das habe ergeben, erklärt Hermann am 15. März auf einer Pressekonferenz, dass mit den durch fortschreitende Digitalisierung ermöglichten Kapazitätssteigerungen sowie anderen, einfacher umzusetzenden Ergänzungsbauten die Ergänzungsstation gar nicht gebraucht werde (auf Anfrage von Kontext bekam die Redaktion vom Verkehrsministerium eine als "Dokumentation der Ergebnisse" bezeichnete Präsentation zu dem Gutachten, die zugleich das Gutachten sei, aber kaum etwas über die angewandte Methodik verrät).

"Man läuft nicht zweimal gegen eine Betonwand"

"Wenn das so ist, muss ich das anerkennen", sagt Hermann auf der Pressekonferenz, genau "wie wenn man nicht zweimal gegen eine Betonwand läuft, wenn man sieht, dass es daneben eine Tür gibt." Auf eine Journalistenfrage, ob das jetzt auch eine politische Niederlage sei, antwortet der Verkehrsminister: "Wenn ich schon in Kategorien von Sieg und Niederlage reden würde, dann müsste ich sagen: Es war ein Sieg der Vernunft und der Fachlichkeit."

Bei der Präsentation ist Hermann schlau genug, den immer noch S-21-gläubigen Koalitionspartner nicht zu provozieren und trotzdem zwischen den Zeilen zu sagen, dass der Tunnelbahnhof unzureichend ist. S 21 sei "vor rund 30 Jahren entwickelt worden, unter ganz anderen Bedingungen", schon jetzt sei es "nicht mehr das, als was es beschlossen wurde". Statt zu sagen, Stuttgart 21 sei von vornherein zu klein dimensioniert, sagt Hermann, dass, um den "Schienenknoten Stuttgart" über das Jahr 2030 hinaus zukunftsfähig zu machen, "aus Sicht von Experten weitere Ergänzungen notwendig" seien. Und weil die Klimaziele von Bund und Land eine Verdopplung des Öffentlichen Verkehrs erforderten und es in manchen Mobilitätssektoren nur begrenzte Steigerungsmöglichkeiten gäbe, müssten "die regionalen Nahverkehrszüge ihre Kapazität verdreifachen".

Aber was ist nun, um im Bild zu bleiben, die Tür neben der Betonwand, die Hermann sieht? Es sind genau genommen viele Türen, ein Bündel von Maßnahmen. Den Kern davon bildet, neben mehreren ausgebauten Zulaufstrecken, das so genannte "Nahverkehrs-Dreieck". Auf dessen Strecken soll ein Teil der Regionalzüge um den tiefergelegten, engen Hauptbahnhof herumgeleitet werden.

Die drei Eckpunkte des Dreiecks bilden dabei die Bahnhöfe in den Stuttgarter Stadtteilen Vaihingen, Feuerbach und Bad Cannstatt. Den langen, südwestlichen Schenkel bildet die bestehende S-Bahn-Stammstrecke zwischen Vaihingen und Bad Cannstatt.Von Vaihingen aus geht ein ähnlich langer nordwestlicher Schenkel, den die zur Nahverkehrs- und S-Bahnstrecke erweiterte Panoramabahn bildet. Sie soll ja erhalten werden, was im vergangenen Juli endgültig beschlossen wurde. Nach dem neuen Gutachten soll sie nicht nur bis zu einem noch zu bauenden Nordhalt (in der Nähe des jetzigen Nordbahnhofs) gehen, sondern bis zum jetzigen S-Bahnhof Feuerbach verlängert werden. Dazwischen sollen laut Hermann "vier bis fünf" neue Haltestellen im Stuttgarter Westen und Norden entstehen.

Den kürzesten Schenkel des Dreiecks bildet schließlich im Norden die Verbindung zwischen Feuerbach und Cannstatt, die durch die "Regional-T-Spange" erreicht werden soll, die bislang unverbundene Streckenabschnitte verbindet. Bislang ging eine Verbindung zwischen Cannstatt und Feuerbach immer nur über den Hauptbahnhof, das ändert sich damit.

Nahverkehrszüge könnten so genau wie S-Bahnen den Hauptbahnhof umfahren, die aus Richtung Göppingen/Esslingen kommenden also über Cannstatt direkt nach Feuerbach oder Vaihingen, die aus Richtung Ludwigsburg kommenden entsprechend ohne Hbf-Halt Richtung Cannstatt etc.

Digitale Wolkenkuckucksheime

Zumindest das neue Dreieck begrüßen die sonst eher S-21-kritischen Verbände VCD, BUND, Pro Bahn und LNV in einer gemeinsamen Pressemitteilung. "Das Nahverkehrsdreieck entspricht weitgehend dem Tangen-S-Bahn-Vorschlag des VCD aus dem Jahr 2005", betont etwa VCD-Landeschef Matthias Lieb.

Nichts sagen die Verbände indes zu dem anderen großen Punkt, den Hermann bei Vorstellung der Studie anführt: Den enormen, geradezu phantastischen Kapazitätssteigerungen, die durch die Digitalisierung, vor allem durch das Zugleitsystem ETCS, möglich werden sollen. Dem Gutachten zufolge könnten auf dem S-Bahnnetz 25 Prozent mehr Züge verkehren, auf der Stammstrecke etwa soll sich ihre Zahl von 24 (Stand 2012) auf 30 erhöhen. Und wem das angesichts der aktuell massiven Ausfälle und Störungen nicht schon magisch genug vorkommt, darf sich beim Tiefbahnhof noch mehr wundern: Wurde schon dessen Stresstest-Ergebnis 2011 von 49 Zügen pro Stunde von vielen Experten als völlig unrealistisch betrachtet (Kontext berichtete), so sollen es nun dank Digitalisierung noch einmal rund 20 Prozent mehr sein, nämlich 59,5 Zugankünfte pro Stunde. "Die Digitalisierung ändert alles", sagt Hermann bei der Präsentation.

"Wunschdenken", nennt das der Physiker Christoph Engelhardt. Und der Gründer des Faktencheck-Portals Wikireal.org hat gute Argumente. Tatsächlich gibt es bislang in der Wissenschaft keine Hinweise auf entsprechende Kapazitätssteigerungen durch ETCS, in der Schweiz wurde sogar in der Praxis ein Minus festgestellt (Kontext berichtete mehrfach, unter anderem hier und hier). Ein Fachartikel von 2023 nenne in der Theorie einen Kapazitätsgewinn von 13 Prozent auf offener Strecke, sagt Engelhardt, für Bahnhöfe aber fänden sich keine entsprechenden Angaben.

Noch mehr Milliarden werden fällig

Während Hermann bei der Pressekonferenz anführt, ihm sei von Experten gesagt worden, "es ist unsinnig, im Kern alles auszubauen und die Zulaufstrecken zu vernachlässigen", betont Engelhardt, dass der limitierende Faktor beim Tiefbahnhof dessen zu kleine Dimensionierung bleibe: "Es ist völliger Unsinn, wie wild Zuläufe auszubauen, wenn der Engpass eines achtgleisigen Bahnhofs bleibt". So viele Züge wie in dem neuen Gutachten postuliert, fast 60, könnten gar nicht verarbeitet werden, die Haltezeiten seien viel zu kurz. Engelhardt hat sich den präsentierten Belegungsplan angeschaut und zahlreiche Haltezeitenunterschreitungen und Doppelbelegungen von Bahnsteigen festgestellt, wie sie nicht einmal der notorisch überlastete Kölner Hauptbahnhof aufweise. Er will das Gutachten noch genauer analysieren, sagt aber schon jetzt: "Die Landesregierung, die SMA und das VWI Stuttgart machen sich vollkommen unmöglich mit diesen Wolkenkuckucksheim-Planungen, die vor allem keine Prüfung der Betriebsqualität enthalten." Um weitere Milliardeninvestitionen in den Stuttgarter Knoten zu rechtfertigen, "wäre ein Faktencheck nötig, der den Namen verdient." Allerdings zweifelt er, ob sich die Landesregierung und ihre Gutachter dem stellen würden.

Um Milliarden geht es in der Tat. Sämtliche in dem Gutachten aufgezählten Ergänzungs- und Ausbaumöglichkeiten, insgesamt 115 Maßnahmen, werden nach "ersten Abschätzungen" mit Kosten von bis zu 3,9 Milliarden Euro beziffert. Da als Zeithorizont aber nicht nur bis 2040, sondern sogar 2050 genannt wird, dürfte es erfahrungsgemäß nicht dabei bleiben.

Sollte es überhaupt zur Umsetzung aller oder nur eines Teils der Maßnahmen kommen. "Wir stellen hier erstmal Ergebnisse des Gutachtens vor, Ziele. Das ist nicht identisch mit dem, was die Politik daraus macht", sagt Hermann. Daraus spricht womöglich auch die Erfahrung mit dem Ergänzungsbahnhof. Doch selbst wenn politisch alle Maßnahmen beschlossen würden, wäre da immer noch die Deutsche Bahn AG, die sie umsetzen müsste. Und die angesichts ihres aktuell desolaten Zustands dabei nicht die größte Zuversicht weckt. "Hier müsste sich natürlich auch gewaltig etwas ändern", sagt Hermann. Die Hoffnung stirbt zuletzt.


Eine Kurzpräsentaion der Ergebnisse des VWI/SMA-Gutachtens findet sich hier, eine ausführlichere Dokumentation hier.
 


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5 Kommentare verfügbar

  • Philipp Horn
    am 23.03.2023
    Antworten
    Die sollten halt mal einen Ausflug nach Zürich .Da kann man bestaune, wie ein funktionierender Knoten aussieht .
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