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S-21-Ergänzungsbahnhof

Aber bitte oberirdisch

S-21-Ergänzungsbahnhof: Aber bitte oberirdisch
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Der Stuttgart-21-Tunnelbahnhof reicht nicht aus, es braucht eine Ergänzungsstation. Doch die soll unter die Erde, weil die Stadt oben bauen will. Drei Ingenieure im Ruhestand meinen: Das geht auch anders!

Ohne das Engagement von Menschen wie Frank Schweizer stünden diese Stuttgarter Bauwerke vielleicht nicht mehr: das Metropol-Kino, der Marmorsaal im Weißenburgpark, die Ruine des Neuen Lusthauses im Mittleren Schlossgarten, das Wasserhäusle neben der John-Cranko-Ballettschule. Zu all diesen und noch einigen mehr hat Schweizer als Vorsitzender des Vereins zur Förderung und Erhaltung historischer Bauten seit 1982 acht Broschüren herausgegeben. Und alle Bauwerke, über die er auf diese Weise informierte, konnten seitdem gerettet werden. Nur beim sogenannten Tunnelgebirge im Gleisvorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs, zu dem Schweizer 1997 eine Broschüre herausgab, ist dies noch nicht sicher. Es soll dem Projekt Stuttgart 21 weichen, denn die Stadt will hier Wohnungen bauen. Doch es ginge auch anders.

"Ich beschäftige mich mit Gleisüberbauungen seit den 1980er Jahren", sagt Frank Schweizer, Bauingenieur im Ruhestand und Sprecher der Netzwerke 21, eines Zusammenschlusses S-21-kritischer Initiativen. Schweizer, vom Netzwerk Kernerviertel, hat gemeinsam mit Ulrich Hangleiter und Rudolf Röder vom Netzwerk Killesberg bereits 2021 ein "Plädoyer für eine oberirdische Zuführung zum Ergänzungsbahnhof am Hauptbahnhof Stuttgart" ausgearbeitet, das aber kaum wahrgenommen wurde. Sie drängen nun an die Öffentlichkeit. Als langjähriger Bezirksbeirat, ein Jahr auch Gemeinderat, hat Schweizer gelernt, dass man hartnäckig bleiben muss.

Ein Ergänzungsbahnhof, der nur ein Kopfbahnhof sein kann, steht im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen baden-württembergischen Landesregierung von 2021. "Wir setzen uns aktiv für weitere Ergänzungen ein, die die Kapazitäten von Regionalverkehr und S-Bahn einschließlich verbesserter Robustheit bei Störfällen erweitern", heißt es da. "Dazu gehören für uns insbesondere die Nahverkehrs-Ergänzungsstation mit Zuläufen aus drei Richtungen."

Dass es ein unterirdischer Bahnhof sein muss, steht da nicht. Aber dem grünen Verkehrsminister Winfried Hermann war es nur gelungen, den Passus im Koalitionsvertrag unterzubringen, nachdem er durch ein Gutachten des Büros Obermeyer Planen + Beraten nachgewiesen hatte, dass ein solcher Zusatz-Kopfbahnhof unter der Erde machbar sei. Sonst hätte der Koalitionspartner CDU nicht mitgespielt.

Das Ziel: die Diskussion versachlichen

Es ist eine verfahrene Debatte, deren Hintergründe Schweizer, Hangleiter und Röder in einem Diskussionspapier analysieren – und ganz klar für eine "oberirdische Zuführung zum Ergänzungsbahnhof" plädieren. Sie bringen einiges an Fachkompetenz mit: Hangleiter ist wie Schweizer Bauingenieur, 1968 hat er bei Frei Otto angefangen, an dessen beiden großen Sonderforschungsbereichen "Leichte Flächentragwerke" und "Natürliche Konstruktionen" mitgewirkt. Die letzten sechs Jahre seiner akademischen Laufbahn, bis 2006, war er Geschäftsführer des Forschungsschwerpunkts Verkehr der Uni Stuttgart (Fovus).

Rudolf Röder wiederum ist Ingenieur für Nachrichtentechnik, hat aber vor seinem Studium bei der Esslinger Maschinenfabrik gelernt und von daher einen Faible für die Eisenbahn. Er hat mehrere, teils preisgekrönte Eisenbahn-Bücher herausgegeben und besitzt dazu auch ein umfangreiches Bildarchiv.

Die drei Ingenieure im Ruhestand wollen die Diskussion versachlichen und führen viele gute Argumente an, wobei nicht alles völlig neu ist. Bereits im Juli 2011 hatten Heiner Geißler und das Schweizer Verkehrsplanungsbüro SMA beim Stresstest zum Abschluss der S-21-Schlichtung unter dem Titel "Frieden in Stuttgart" eine Kombination von unterirdischem Tiefbahnhof und verkleinertem Kopfbahnhof vorgeschlagen. Anders als heute, wo sich ein achtgleisiger U-Bahnhof im Bau befindet und ein sechsgleisiger Ergänzungs-Kopfbahnhof den künftigen Bedarf abdecken soll, hatten Geißler und SMA nur vier unterirdische Gleise und einen auf zehn bis zwölf Gleise verkleinerten Kopfbahnhof vorgeschlagen. Das Konzept verschwand damals umgehend in der Schublade.

"So einfach, dass man es kaum glaubt"

"Der Bau einer Ergänzungsstation ist unumgänglich", lautet nun das Fazit der drei Netzwerker Schweizer, Röder und Hangleiter: "Aber bitte oberirdisch." Denn, kurz gesagt: "Eine oberirdische Ergänzungsstation ist vergleichsweise kostengünstiger und schneller zu realisieren." Für den unterirdischen Ergänzungsbahnhof rechnet das vom Verkehrsministerium beauftragte Büro Obermeyer mit sechs Jahren Planung plus sechs bis sieben Jahren Bauzeit und Kosten in Höhe von 785 Millionen Euro – noch vor den aktuellen Preissteigerungen. Doch für die oberirdische Lösung spricht nicht nur der Kostenaspekt: "Durch den geringeren Bedarf an Beton und Stahl ist diese Lösung auch klimafreundlicher", betont Schweizer mit Blick auf die CO2-Bilanz.

Oder, um es mit den Worten einer neuen Initiative "Wir wollen zum Kopfbahnhof" aus Böblingen zu sagen: "Die Umsetzung ist so einfach, dass man es kaum glauben mag. Denn es muss kein einziger Meter Gleis neu gebaut werden. Nein, es dürften nur ein paar Gleise des bestehenden, funktionierenden Hauptbahnhofes nicht gleich weggenommen werden." Während es dieser Initiatiative vor allem um die Gäubahn geht, der wegen Stuttgart 21 eine jahrelange Unterbrechung droht, soll eine Ergänzungsstation allerdings noch weitere Verbindungen ermöglichen.

Schweizer und Kollegen kennen natürlich auch das Hindernis, das dieser Lösung im Weg steht: Der Stuttgart OB Frank Nopper und sein Baubürgermeister Peter Pätzold drängen darauf, dass auf den genannten Flächen Wohnungsbau realisiert wird. Hier kommt nun die Überbauung der Gleise ins Spiel: "Eine oberirdische Ergänzungsstation mit Gleisüberbauungen", schreiben die drei, "würde es erlauben, mit der Planung der Bebauung sofort zu beginnen und zügig an die bauliche Umsetzung zu gehen. Das Überbauen von Gleisanlagen ist an vielen Orten der Welt – unter anderem in der Partnerstadt Mumbai – realisiert."

Mumbai, New York oder Stockholm machen es vor

Schweizer war 1972 zum ersten Mal in Stuttgarts Partnerstadt Mumbai, das damals noch Bombay hieß, und dann immer wieder. Seinerzeit hatte der Architekt Charles Correa gerade begonnen, New Bombay oder Navi Mumbai zu planen, das größte Stadterweiterungsprojekt der Welt. Mumbai, 15 Millionen Einwohner ohne die Agglomeration, liegt auf einer Halbinsel und ist extrem dicht bevölkert. Navi Mumbai mit heute über einer Million Einwohner liegt auf dem Festland, angebunden mit einer Auto- und Eisenbahnbrücke, der Vashi Bridge. Die Strecke hat vier Gleise und der nächste Bahnhof, Vashi Station, sehr breite Bahnsteige wegen der vielen Pendler. Er ist komplett über den Gleisen gebaut wie auch die weiteren Bahnhöfe an der Strecke.

Überbaute Bahnhöfe und Gleisanlagen gibt es seit langer Zeit. In New York ist das gesamte Gleisvorfeld des Grand Central Terminal überbaut: mit insgesamt 67, auf der obersten Ebene über 40 Gleisen der größte Bahnhof der Welt. Als der Bahnhof 1913 eröffnet wurde, war das Straßennetz bereits fertig. In regelmäßigen Abständen führen beidseits der zentralen Park Lane Brücken über die Gleise. Von den Schienen ist längst nichts mehr zu sehen. Die Felder zwischen den Straßen waren schnell überbaut. Seit 1962 erhebt sich direkt hinter dem Bahnhof das MetLife, früher Pan Am Building, an dem der Bauhaus-Gründungsdirektor Walter Gropius mitgewirkt hat: 60 Stockwerke über Bahngleisen auf zwei Etagen.

Ein anderes Beispiel ist der Bahnhof Montparnasse, mit 28 Gleisen einer der größten von Paris. Das Gleisvorfeld ist zwar nicht überbaut, dafür aber die Station selbst. Von drei Hochhausscheiben eingefasst, befindet sich auf seinem Dach seit 1994 der Jardin Atlantique, eine öffentliche Grünanlage. Wo die Gleise den Bahnhof verlassen, sind sie überbaut von einem vielgeschossigen Gebäude mit charakteristischen Rundungen, durchschnitten von einer Straße.

Der jüngste Fall: In Stockholm hat Anfang des Jahres das Büro von Norman Foster den Wettbewerb zur Umgestaltung des Hauptbahnhofs gewonnen. Die Schienen des älteren Teils, ein achtgleisiger Kopfbahnhof, sind bereits überbaut. Nun sollen auch die neun parallel anschließenden Durchgangsgleise unter einer Bebauung verschwinden. Das Büro Foster und Partner sieht sechs bis zu zehngeschossige Baublöcke vor, die wie alte Eisenbahnbrücken auf flachen, stählernen Bögen ruhen. Das neue Quartier stellt zugleich eine neue Verbindung zwischen den beiden Seiten des Bahnhofs her, da bisher nur große Autostraßen an beiden Enden des Bahnhofs über die Gleise führen.

In Stuttgart gäbe es Detailprobleme – lösbare

Warum sollte in Stuttgart nicht möglich sein, was seine Partnerstadt Mumbai hinkriegt und New York schon vor 100 Jahren? Zugegeben, die Situation ist etwas anders. Zwischen der Nord- und Südseite des Bahngeländes besteht in der Landeshauptstadt ein Höhenunterschied von mehr als vier Meter. Damit werden die Stadt- und Landschaftsplaner umgehen müssen – gleich ob die Schienen oben oder unten ankommen.

Auch im Fall der Gebäude, die nach aktuellen Planungen an der Stelle der Gleise 1 bis 6 des noch bestehenden Kopfbahnhofs erbaut werden sollen, spielt es keine entscheidende Rolle, ob die Schienen da bleiben, wo sie sind, oder zwei Etagen tiefergelegt werden. In beiden Fällen werden sie sich nicht auf das Bahnhofsdach stützen, sondern auf Fundamente, die tiefer in den Boden reichen müssen. Wie dies gelöst wird – ob mit Hilfe von Bögen, die sich über die Gleise spannen wie im Entwurf von Foster und Partner für Stockholm, oder ob Zwischenstützen, vielleicht Aufzugsschächte, einen Teil des Gewichts abfangen, werden die Architekten und Statiker entscheiden müssen.

Ein kleines Problem gibt es, darauf weist Röder hin: "Die Brücke über die Wolframstraße wird erneuert werden müssen", sagt der Eisenbahnfachmann. Die gemauerten flachen Bögen, die derzeit die Straße überwölben, reichen an beiden Enden relativ tief herab. Neben der heutigen Bahnlinie wird aber in Zukunft die S-Bahn verlaufen, nicht sehr tief unter der Erde, sodass die Straße höher zu liegen kommt. Wenn aber die Bögen durch flache Stahlträger ersetzt werden, so Röder, sei immer noch genug Platz.

Ein lösbares Detail. Kein Hindernis, das zwingend erfordert, die Gleise tieferzulegen. Auf jeden Fall kein Grund, die Anbindung der Gäubahn für zwölf oder mehr Jahre zu unterbrechen und einige hundert Millionen Euro zusätzlich auszugeben, die an anderer Stelle besser investiert wären. Etwa für die marode Bahn oder im Wohnungsbau.


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2 Kommentare verfügbar

  • Reinhard Gunst
    am 22.12.2022
    Antworten
    Das Projekt S21 nährt Baufirmen, Immobilienkonzerne, aber auch die wackere Schar der Kritiker.
    Für sie ist das Projekt wohl ein Lebenselixier geworden, dass sie nicht mehr missen möchten. Natürlich kann ein Konzept, wie hier geschildert wird, immer weiter verfeinert werden. Doch Stuttgart ist mit…
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