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S 21: Vom Stresstest zum Ergänzungshalt

Immer noch Rückbau

S 21: Vom Stresstest zum Ergänzungshalt: Immer noch Rückbau
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Zehn Jahre, nachdem Heiner Geißler bei der Stresstest-Präsentation seine Idee eines Kombi-Bahnhofs vorgestellt hat, wird im Land wieder über eine Kombi-Lösung diskutiert. Winfried Hermanns Konzept eines Ergänzungsbahnhofs basiert dabei teils auf Prämissen, die schon im Stresstest als falsch identifiziert wurden.

Ein ziemlich verrückter Tag, dieser 29. Juli 2011. Im Stuttgarter Rathaus findet die Präsentation des Stresstests für Stuttgart 21 statt, der letzte Akt der sogenannten Schlichtung unter dem Vorsitz des früheren CDU-Politikers Heiner Geißler. Die Bahn hatte die Testsimulation durchgeführt und dann von der Schweizer Verkehrsberatungsfirma SMA und Partner begutachten lassen, und teilweise hatten die Stuttgart-21-Gegner nur wenige Stunden Zeit, sich mit diesen Dokumenten zu beschäftigen. Die haben sie trotzdem gut genutzt. Boris Palmer (Grüne) zerlegt bei der Veranstaltung den Stresstest nach Strich und Faden, weist Fehler um Fehler in der Simulation nach, so dass sich SMA-Chef Werner Stohler irgendwann auf seinem Stuhl windet, wie Susanne Stiefel und Sandro Mattioli damals für Kontext berichten.

Doch dann zaubert Geißler auf einmal etwas völlig Neues aus dem Hut: Das Konzept eines Kombi-Bahnhofs, pathetisch benannt "Frieden in Stuttgart", das er mit Stohler gemeinsam ohne Wissen der Konfliktparteien ausgetüftelt hat. Der Vorschlag umfasst einen verkleinerten Kopfbahnhof für den Nahverkehr und einen gegenüber S 21 leicht verkleinerten Durchgangsbahnhof für den Fernverkehr, und er verdrängt die noch rauchenden Trümmer des Stresstests umgehend – statt auf diese stürzen sich die Medien nun auf den Kombi-Bahnhof. Eine wirkliche Option wird er nie, auch wenn er im Grunde der Ur-Idee von S-21-Erfinder Gerhard Heimerl entspricht; die Projektbetreiber lehnen es ab, sich überhaupt damit zu beschäftigen, ebenso die SPD, seit einigen Monaten kleiner Koalitionspartner der Grünen in der Landesregierung.

Nun, zehn Jahre später, wird in Stuttgart wieder über einen Kombi-Bahnhof diskutiert, und einige seit der Stresstest-Präsentation nicht aufgearbeitete Aspekte haben sich in die aktuelle Diskussion hinüber gerettet und verzerren sie. Doch der Reihe nach.

Vor zwei Jahren präsentierte Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) die Idee eines unterirdischen Ergänzungskopfbahnhofs für Stuttgart 21 (Kontext berichtete). Die Gemeinsamkeit mit Geißlers Vorschlag besteht vor allem darin, dass es um eine Kombination aus Durchgangsbahnhof für den Fernverkehr und Kopfbahnhof für Nahverkehr geht, daneben gibt es gewichtige Unterschiede. In der Kombiidee von 2011 wurde der oberirdische Kopfbahnhof leicht verkleinert, in Hermanns Idee wird dieser erst abgebaut und dann unterirdisch ein deutlich kleinerer neuer Bahnhof gebaut – ein Zugeständnis an die Stadt Stuttgart, die keine der durch S 21 frei werdenden Flächen zur Bebauung verlieren will.

Damals sinnlos, heute sinnlos

Der Ergänzungsbahnhof hat es nun auch in den neuen grün-schwarzen Koalitionsvertrag geschafft und Hermanns Ministerium hat am 15. Juni 2021 eine Machbarkeitsstudie vorgestellt, viel Gegenliebe ist der Idee dennoch bis jetzt nicht beschieden: Die Verkehrsausschüsse sowohl vom Verband Region Stuttgart (VRS) als auch vom Stuttgarter Gemeinderat lehnten die Zusatzstation mehrheitlich ab.

Keinerlei Wohlwollen kommt bislang auch von den Stuttgart-21-Gegnern. Was auf den ersten Blick erstaunen mag, wenn man Hermanns Vorstoß – und vor allem dessen von der CDU nicht verhinderte Verankerung im Koalitionsvertrag – als Eingeständnis des Scheiterns von S 21 in seiner bisherigen Form beziehungsweise als Reaktion auf dieses Scheitern interpretiert. Auf den zweiten Blick ist das aber schon weniger erstaunlich: Denn zum einen würden ein unterirdischer Ergänzungshalt und erweiterte Zulaufstrecken sowie ein Gäubahntunnel – all das gehört ja zum Ergänzungspaket im Koalitionsvertrag – beim Bau beachtliche Emissionen an Treibhausgasen freisetzen (Kontext berichtete). Und das widerspreche diametral den Klimaschutzzielen im Koalitionsvertrag, wie Kritiker monieren. Um daran zu erinnern, überreichten Vertreter des Aktionsbündnisses gegen S 21 vor dem Staatsministerium in der Villa Reitzenstein am vergangenen Freitag einen offenen Brief an Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Zum anderen argumentieren Kritiker wie der Physiker Christoph Engelhardt, dass selbst eine Doppelstation – S 21 plus Ergänzungshalt – weniger Züge bewältigen könnte, als dies dem bestehenden Kopfbahnhof möglich wäre. Es würde sich also immer noch um einen Rückbau handeln. Doch das Verkehrsministerium folge stattdessen einer falschen Prämisse, nämlich einer Kapazitätserhöhung bei Stuttgart 21, was die Bahn 2011 beim Stresstest zu zeigen versucht hatte.

Und tatsächlich: Minister Hermann begründet zumindest nach außen den Ergänzungsbahnhof nicht etwa damit, dass Stuttgart 21 weniger als von der Bahn versprochen leiste, sondern damit, dass der Tunnelhalt eine zu geringe Kapazität für eine Verdopplung der Fahrgäste im Schienenverkehr bis 2030 habe, wie es der 2018 abgeschlossene Koalitionsvertrag der Bundesregierung fordert. "Wir zeigen, dass mit Stuttgart 21 eine Kapazitätserhöhung möglich ist", sagte Hermann bei der Vorstellung der Machbarkeitsstudie am 15. Juni, aber ab 2030 sei es zu eng für weitere Kapazitätssteigerungen. Daher sei der Ergänzungshalt eine "Zukunftsoption". Ob dies nur eine Argumentation mit Rücksicht auf den Koalitionspartner ist, sei dahingestellt. Auf jeden Fall stützt sie eine Interpretation der Stresstest-Ergebnisse, die mehr als fragwürdig ist.

Fakten werden ignoriert

Wohl wenige Menschen haben sich so intensiv mit dem Stresstest und den Fragen der Leistungsfähigkeit von S 21 befasst wie Christoph Engelhardt. Der Physiker aus Garching bei München, Initiator des Faktencheck-Portals Wikireal, war für die Projektgegner Experte bei der Stresstest-Präsentation 2011, bis heute hat das Thema ihn nicht losgelassen. Schon 2011 hat er den Stresstest als "größten technisch-wissenschaftliche Betrugsfall der deutschen Industriegeschichte" bezeichnet. Für diesen Vorwurf habe ihm die Bahn zwar einmal eine Klage angedroht, jedoch nie umgesetzt, vielleicht, weil eine gerichtliche Überprüfung seine Aussage bestätigt hätte, wie Engelhardt mutmaßt.

Die Grundlagen für den Stresstest waren in Geißlers Schlichterspruch im November 2010 festgelegt worden: "Die Deutsche Bahn AG verpflichtet sich, einen Stresstest für den geplanten Bahnknoten Stuttgart 21 anhand einer Simulation durchzuführen. Sie muss dabei den Nachweis führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist."

Die Hoffnung, dies werde wegen Unerreichbarkeit der Todesstoß für S 21 sein, zerstob schnell, die vermeintliche Umsetzung von Geißlers Forderung entwickelte sich zur veritablen Farce. Irreführend war dabei schon die Zielvorgabe, dass S 21 in der Spitzenstunde eine Kapazität von 49 Zügen haben solle – denn diese 49 Züge bedeuteten keineswegs 30 Prozent mehr als das Maximum des Kopfbahnhofs, sondern nur 30 Prozent mehr als die 37 Züge, die im damals aktuellen Fahrplan in der Spitzenstunde fuhren. Dass die maximale Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofs bei über 50 Zügen pro Stunde liege, hatten manche Experten auf Gegnerseite immer wieder betont.

Schon im Vorfeld seien alle Zusagen gebrochen worden, die S-21-Gegner an der Formulierung der Prämissen zu beteiligen, erinnert sich Christoph Engelhardt, zudem seien wesentliche Informationen systematisch zurückgehalten worden. Dazu kam eine geschickte Medienstrategie der Bahn: Um die öffentliche Wahrnehmung vorzustrukturieren, lancierte Technikvorstand Volker Kefer schon kurz vor der eigentlichen Stresstest-Präsentation, der Stresstest sei bestanden – was dann meist nicht als Behauptung der Bahn, sondern als Tatsache berichtet wurde.

Merkwürdige Prämissen

Falsch war auch, wenn von einem SMA-Gutachten zum S-21-Stresstest gesprochen wurde. Was die Ingenieure der Schweizer SMA vornahmen, war lediglich ein so genanntes "Audit" zum Stresstest. Bei einem solchen wird untersucht, ob in einem Prozess die an ihn gestellten Anforderungen und Richtlinien eingehalten werden. In Falle des Stresstests ging es also darum, ob innerhalb der von der Bahn durchgeführten Simulation die von der Bahn verwendeten Parameter auch funktionierten – kurz: Ein geschlossenes System wurde geprüft. Ob die Grundannahmen, auf denen die Parameter beruhen, aber plausibel sind, prüfte die SMA nicht.

Doch auch so bescheinigte die SMA der Bahn Mängel und noch zu lösende Probleme, wenngleich verklausuliert. So bescheinigt die SMA S 21 etwa eine "wirtschaftlich optimale Betriebsqualität", was entgegen des Superlativs "optimal" aber keine angestrebte "gute Betriebsqualität" bedeutet – die gibt es nur mit dem Attribut "Premiumqualität", nur damit ist Verspätungsabbau möglich.

Engelhardt hatte schon vor der Stresstest-Präsentation viele Fehler und Regelverstöße festgestellt, die Kernpunkte trug Boris Palmer dann in seiner Kritik vor. Auch nach der Präsentation analysierte der Physiker weiter und kam auf über ein Dutzend Fehler. Zu kurz angesetzte Haltezeiten, falsch modellierter Verspätungsabbau, zu optimistische Verspätungsniveaus, Unschärfen bei der verwendeten Simulationsoftware, um nur einige zu nennen.

Nach Berechnungen von Engelhardt und seinen MitstreiterInnen werde der Tiefbahnhof statt 49 eher 32 Züge in der Spitzenstunde schaffen, was sogar von Unterlagen der Bahn gestützt wird. Noch realistischer seien für eine gute Betriebsqualität 29 bis 30 Züge, so Engelhardt.

Bestätigt wurden die meisten Kritikpunkte Engelhardts 2017 von einem führenden wissenschaftlichen Experten in Sachen Eisenbahn-Kapazität, Professor Ingo Hansen von der Universität Delft in den Niederlanden. Dieser befand in einem Fachartikel im "Journal of Rail Transport Planning & Management", die im Stresstest behauptete Leistungsfähigkeit von S 21 "ist viel zu optimistisch verglichen mit praktischen Erfahrungen!" – mit Ausrufezeichen im Originaltext.

Grüne schwanken wie das Rohr im Wind

Hansens Artikel hatte ebenso wenig eine Wirkung wie 2011 die Kritik Engelhardts. Nach der Volksabstimmung im November 2011 erklärte Ministerpräsident Kretschmann den Käs' für gegessen. Dass es in der Politik nicht auf Wahrheit, sondern auf Mehrheiten ankomme, hatte er schon kurz nach seiner Wahl gesagt.

Apropos Wahrheit: Erstaunlich ist, dass laut Engelhardt die Bahn viele ihrer Stresstest-Fehler mittlerweile eingestanden hat, manche Politiker aber den entgegengesetzten Weg zu gehen scheinen. So bekundete Winfried Hermann 2011 noch vor der Stresstest-Präsentation gegenüber der taz, er habe einen "Pretest" machen lassen, "der unterirdische Bahnhof wird danach nicht die um 30 Prozent höhere Kapazität im Vergleich zum jetzigen Kopfbahnhof haben". Und im November 2011 ließ das Verkehrsministerium von der landeseigenen Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg (NVBW) ein Gutachten des Münchner Verkehrsberaterbüros Vieregg-Rößler zur Kapazität des Kopfbahnhoffs prüfen, Ergebnis: 50, mit Verbesserungen sogar 56 Züge seien pro Stunde möglich. Die Pressemitteilung mit dem Titel "Kopfbahnhof könnte heute schon mehr Züge abwickeln als S 21" steht noch heute auf der Ministeriums-Homepage.

Sieben Jahre später sagte er im Kontext-Interview: "Ich glaube nicht, dass der neue Bahnhof weniger leistungsfähig sein wird", und nun vor einigen Wochen ging er bei der Vorstellung der Machbarkeitsstudie gar von einer gestiegenen Leistungsfähigkeit aus.

Sein grüner Parteifreund Fritz Kuhn, früherer Stuttgarter OB und noch früher S-21-Gegner, war ihm schon einige Jahre voraus. Bereits 2015 verwahrte er sich gegen Darstellungen, es handle sich bei dem Projekt um einen Rückbau, und 2019 sagte er im Gemeinderat, es sei klar, dass S 21 rund 30 Prozent mehr Zugverkehr bewältigen könne.

Ein Rückbau ist es laut Engelhardt auch mit der Ergänzungsstation noch: Neben 29 Zügen in der Spitzenstunde, die er für den Tiefbahnhof rechnet, komme die Ergänzungsstation mit nur zwölf Zügen hinzu – denn zwei der geplanten sechs Gleise seien schon für die S-Bahn vorgesehen, und nur vier für den übrigen Nahverkehr. Für einen integralen Taktfahrplan sei das immer noch zu wenig, sagt Engelhardt, dafür brauche man in Stuttgart mindestens 14 Gleise – zwei mehr als mit der Ergänzung. Eine "Zukunftsoption" sieht anders aus.


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10 Kommentare verfügbar

  • Marlies Beitz
    am 30.07.2021
    Antworten
    Jetzt in den Sommerferien muss die Stammstrecke der S-Bahn hinauf nach Vaihingen aufwendig saniert werden, dazu ist eine komplette Streckensperrung notwendig. Viele Fern- und Regionalzüge können in dieser Zeit den Hauptbahnhof überhaupt nicht mehr anfahren, die S-Bahn kann immerhin 4 Gleise im…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 11 Stunden
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