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Bodo Rasch

Über den Gleisen

Bodo Rasch: Über den Gleisen
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Stuttgart 21 wird gebaut, um auf den frei werdenden Flächen Häuser zu errichten. Der Architekt Bodo Rasch hat vor mehr als 50 Jahren gezeigt, dass man auch über den Gleisen bauen kann. Die Idee könnte aktueller nicht sein.

Es war das Thema seines Lebens. Bodo Rasch wollte die Stadt vom Autoverkehr befreien. Während in Stuttgart Ende der 60er Jahre das Auto die Stadtentwicklung dominierte, entwickelte der visionäre Stadtplaner sein Konzept der Großrelais. Innenstädte, so die Idee, lassen sich mit Hilfe der S-Bahn fast gänzlich vom Autoverkehr befreien. Dazu sollte ein Park-and-Ride-System dienen, wie es dies in Hamburg seit 1963 schon gab. Auch in Stuttgart wurden an der S-Bahn Park-and-Ride-Stationen eingerichtet, die heute von jedem siebten Pendler genutzt werden. Rasch erkannte, dass sich daraus mehr machen ließe als öde Parkhäuser an den Schienen. S-Bahn-Halte könnten zu Zentren der Stadtentwicklung werden. Die nannte er Großrelais.

"Großrelais bedeutet in der Flächenstadt eine Verdichtungszone", definiert er, "die im Bereich einer besonderen Verkehrsverknotung von Straße und Schiene entsteht." In seinen Publikationen analysiert er, entlang welcher Achsen sich die Stadt und der Großraum Stuttgart weiter entwickeln könnten – ähnlich wie dies seit der Gründung des Regionalverbands 1973, heute Verband Region Stuttgart, dann auch geschah.

Mit dem größten und ehrgeizigsten Verkehrsbauwerk war 1966 am Charlottenplatz der Cityring um die Stuttgarter Innenstadt geschlossen. Doch die Stadt plante weiter: eine zweigeschossige B 14 im Tal und einen weiteren Autobahnring in Halbhöhenlage. Aber um in der Innenstadt Platz für die vielen Autos zu schaffen, hätten Parkhäuser gebaut werden müssen, bis für nichts anderes mehr Platz gewesen wäre. Deshalb kamen nun endlich die S-Bahn-Planungen in Gang, die seit der Nachkriegszeit in der Schublade geblieben waren.

Wer muss in den Untergrund: Menschen oder Autos?

Bodo Rasch dachte weiter. Er sah in der S-Bahn nicht nur eine Ergänzung zum Autoverkehr. Er erkannte, dass die Städte an einem Wendepunkt angelangt waren. "Auf einem Quadratmeter Straßenfläche können 6 Personen stehen", schreibt er, "während ein Autofahrer zum Parken 15 qm oder den Stehplatz von 90 Personen in Anspruch nimmt."

Bodo Rasch senior. Foto: Aiga Rasch

Die Raschs

Die "Brüder Rasch" waren mit Wohnungseinrichtungen und Publikationen an der Weißenhofsiedlung beteiligt. Bodo Rasch, 1903 in Elberfeld, heute Wuppertal geboren, war seinem älteren Bruder Heinz 1922 nach Stuttgart gefolgt, hatte in Hohenheim Landwirtschaft studiert und nebenbei das Schreinerhandwerk erlernt. 1933 ließ er in seiner Publikationsreihe "Zirkel" führende Vertreter der Moderne zu Wort kommen – wofür ihn die Nazis eine Woche ins Gefängnis steckten. Später war er Mitbegründer des Vereins "Freunde der Weißenhofsiedlung". Sein gleichnamiger Sohn konvertierte zum Islam und baute für die Moschee von Medina die weltgrößten Schirme.  (dh)

Die Altstadtgebiete könnten daher nur auf zwei Arten funktionsfähig gemacht werden: "Entweder beschafft man durch Niederlegen großer Stadtgebiete die notwendigen Flächen für den Autoverkehr, oder man baut eine Schnellbahn oder U-Bahn." Tatsächlich tendierte Stuttgart 1970 noch dazu, das Bohnenviertel, eines der letzten Altstadtgebiete, abzureißen. Erst mit dem Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 setzte ein zögerliches Umdenken ein.

Für vier Bahnhöfe – Leinfelden, Stuttgart-Vaihingen, den Westbahnhof und Ludwigsburg – hatte der Architekt bereits konkrete Pläne entwickelt. An S-Bahn-Stationen, häufig eher in Randlagen, kehrt oft nur im Halb- oder Viertelstundenrhythmus Leben ein. Rasch wollte sie dagegen zu belebten, stark verdichteten Epizentren der Stadtentwicklung machen. Wenn die Pendler abends von der S-Bahn ins Auto umsteigen, wären sie für Einkaufszonen geradezu prädestiniert.

"Beim Umsteigen wird der Mensch Fußgänger", so Rasch. "Der Fußgänger ist begehrt, er stellt als 'Laufkundschaft' einen Wert dar, so dass dort, wo er die Bahn oder sein Auto verlässt, die Händler bereitstehen, um ihre Angebote zu machen. Die Umsteigestellen bilden einen natürlichen Kommunikationsbezirk, und zwar innerhalb der 'Fußgängerentfernung' vom Bahnsteig." Auch für Wohnungen und Büros wären die S-Bahn-Halte bestens geeignet. Wer in einem Hochhaus direkt an der S-Bahn wohnt oder arbeitet, braucht nur den Aufzug, um im Handumdrehen zum Bahnsteig zu gelangen.

Bauten, die sich über die Bahnlinien spannen

Der Mann, der in Hohenheim studiert hatte, stellte sich zwanzigstöckige Punkt-, Scheiben- oder Terrassenhochhäuser vor, die direkt an den Gleisen und über die Bahnlinien hinweg gebaut werden sollten. Dabei griff er auf eine Idee zurück, die er mit seinem älteren Bruder Heinz bereits in den 1920er-Jahren entwickelt hatte. Ausgehend von den stadtplanerischen Ideen Le Corbusiers, wollten die Brüder Rasch – so der Name ihres Büros – Hochhäuser an Masten oder Treppenhauskernen aufhängen. "Die Entwürfe der Raschs waren die kühnsten von allen", meinte Frei Otto, der Konstrukteur des Münchner Olympiadachs, dazu. Gebaut wurden solche Häuser jedoch erst sehr viel später.

Als Rasch seine Pläne entwickelte, hatte der Bau der S-Bahn in Stuttgart noch nicht begonnen. Die Königstraße war noch eine Autostraße, der Kleine Schlossplatz befand sich im Bau, die Klettpassage gab es noch nicht. Er wollte Fußgänger und Schienen nicht in den Untergrund verbannen. Er sah über den Schienen zunächst eine Parkhausebene vor, auch als Schallisolierung nach oben. Darüber befindet sich in seinen Entwürfen die Fußgängerebene mit Läden, darüber Wohn- und Bürohochhäuser.

Wo Ideen Wirklichkeit werden

Immer höher wuchsen die Hängehäuser. 89 Meter misst das 1971 fertiggestellte 23-stöckige Bettenhaus des Kölner Universitätsklinikums. 100 Meter – weil in München kein Haus höher sein darf als der Turm der Frauenkirche – das zur Olympiade 1972 noch nicht bezogene BMW-Hochhaus, genannt Vierzylinder. Es ist Baudenkmal, ebenso das 75 Meter hohe, 19-geschossige Haus der Sparkasse in Wuppertal. 102 Meter hoch ist schließlich das Haus des Deutschlandfunks in Köln.

Keine Hängekonstruktion, aber ebenfalls ein Hochhaus, das wie ein Pilz auf einem Treppenhausturm von 12,5 mal 12,5 Meter Grundfläche ruht, war das 1974 fertiggestellte City-Hochhaus von Bergkamen bei Dortmund: 63 Meter, 15 Stockwerke hoch, galt der Turm mit seinen 150 Wohnungen als Wahrzeichen der 1966 durch eine Gemeindereform entstandenen Stadt. 2000 zog der letzte Mieter aus dem heruntergewirtschafteten Gebäude aus. 2006 wollte der inzwischen alleinige Eigentümer das Hochhaus zu einem "Solar Tower" umbauen. An der Standfestigkeit der Tragkonstruktion lag es nicht, dass es dann weiterverkauft und 2013 bis 2016 abgerissen wurde.  (dh)

"Rasch hat sein Großrelais als Konzept für ganz Deutschland entwickelt", sagt Katharina Stolz, die vor Kurzem ihre Dissertation über den Architekten eingereicht hat. "Die Bundesbahn hat ihm Planunterlagen zur Verfügung gestellt, er hat sogar Gespräche mit Willy Brandt geführt." Das Konzept ist nie verwirklicht worden. Hätten die Großrelais tatsächlich gebaut werden können? Hängehäuser, wie sie die Raschs in den 1920er-Jahren angedacht hatten, gab es in Deutschland seit den 1960er-Jahren. Das erste war das Rathaus von Marl, 1966 fertiggestellt und heute unter Denkmalschutz: zwei hängende Türme über einem flachen Sockel, in dem die Sitzungssäle und öffentlichen Bereiche untergebracht sind. Parallel dazu wurde ebenfalls 1966 das Hamburger Finnlandhaus eröffnet. Es ist 50 Meter hoch, auf einem Fuß von nur 6,9 Meter Breite und steht heute ebenfalls unter Denkmalschutz.

Neues Licht auf alte Ideen

Zur selben Zeit entwickelte der Münchner Architekt Richard J. Dietrich sein Konzept der Metastadt: ein variables System aus Stahlträgern und Fertigteilen, das nur einmal realisiert wurde – in der westfälischen Kleinstadt Wulfen. "Nicht alle Zukunftsentwürfe bestehen die Probe der Wirklichkeit", heißt es 1978 in einem Fernsehbeitrag und weiter: "Heute, nach drei Jahren Wohnerfahrung, gilt das Experiment als geglückt." Dennoch wurde die Metastadt Wulfen 1987 abgerissen. Dietrich war Brückenkonstrukteur. Die Metastadt war auch gedacht, um Verkehrsflächen zu überbauen. Kein Bau tat dies so spektakulär wie die so genannte Wilmersdorfer Schlange in Berlin: ein 500 Meter langer Wohnriegel längs über einer Autobahn. Nach Fertigstellung vom Magazin "Der Spiegel" 1980 als "gigantische Fehlplanung" gegeißelt, steht der Bau nun seit 2017 unter Denkmalschutz.

Ob nun denkmalgeschützt oder abgerissen, all diese Bauten sind durchdrungen vom spröden Charme des Betonbrutalismus der 1960er-Jahre. Anders verhält sich dies beim 2016 eröffneten neuen Hauptbahnhof von Utrecht, dem zentralen Eisenbahnknoten der Niederlande. Als Fußgängerebene spannt sich die Bahnhofshalle über die Gleise. Ein doppeltürmiges Rathaus direkt daneben, eine der größten Shoppingmalls des Landes, ein Musicaltheater und ein 30-geschossiges Appartementhaus machen den Bahnhof zum neuen Stadtzentrum.

Was jedoch nirgendwo umgesetzt wurde, war die Idee, überbaute Bahnhöfe in der Peripherie zu neuen Zentren der Stadtentwicklung zu verdichten. Angesichts des fortschreitenden Flächenverbrauchs und der Notwendigkeit einer Verkehrswende scheint dieser Gedanke heute so aktuell wie nie.


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2 Kommentare verfügbar

  • Andrea K.
    am 04.12.2022
    Antworten
    Es ist schon schade, dass man gute Ideen offenbar nicht erkennt, wenn sie einen fast schon in die Nase beißen. Sicher, bei " ein 500 Meter langer Wohnriegel längs über einer Autobahn" kriegt man das kalte Grausen und wird an sozialistisch geprägte Wohnblöcke erinnert. Aber nur weil dieser Teil der…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 5 Stunden
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