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Missbrauch darf kein Randaspekt sein

Missbrauch darf kein Randaspekt sein
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Die Evangelische Brüdergemeinde Korntal feiert dieses Jahr Jubiläum und hat dazu eigens eine Ausstellung präsentiert. Der Pädagogik-Professor und Aufklärer Benno Hafeneger hat sie sich angesehen. Ein Gespräch über den Missbrauch an Heimkindern und wie an dieses dunkle Kapitel erinnert werden sollte – auch und gerade beim offiziellen Festakt.

Herr Hafeneger, 200 Jahre Korntal sind hier in der Ausstellung versammelt. In einem eigens dafür gebauten Haus, dem "Zeit.Raum am Türmle". Wie blickt der Aufklärer auf die Darstellung der Geschichte der Evangelischen Brüdergemeinde?

Die ist gut strukturiert und aufgemacht, ein Panorama mit all den Facetten, die diese Brüdergemeinde in diesen zwei Jahrhunderten ausmachen. Auch die zwei Tafeln am Ende, die die Aufklärungsarbeit des Kindesmissbrauchs in den Heimen der Brüdergemeinde dokumentieren, sind gelungen. Daran hätte ich nichts zu kritisieren.

Nun liegt hier am Eingang der Ausstellung das Buch des pietistischen Theologen Rolf Scheffbuch aus ...

... des Haustheologen der Evangelischen Brüdergemeinde, dem sie sich verbunden fühlt.

Ja, und das ist okay so. Aber wie wäre es, wenn hier auch der Aufklärungsbericht liegen würde, direkt neben Scheffbuch? So könnten alle Besucher mehr erfahren über diesen mühsamen Prozess der Aufklärung und sogar etwas mitnehmen. Das wäre ein Hinweis an die Brüdergemeinde: Freunde, wenn ihr das mit der Aufklärung wirklich ernst nehmt, dann bitte legt das Buch, das demnächst erscheint, oder den Aufklärungsbericht gleich hier neben den Scheffbuch. Dann hätte man die Innen- und die Außensicht der Brüdergemeinde.

Wir sind mitten im Jubiläumsjahr, das mit dem Neujahrsempfang offiziell eingeläutet wurde. Was erwartet der Aufklärer von der Brüdergemeinde?

Zunächst ist es legitim, dass die Brüdergemeinde den Facettenreichtum ihrer Geschichte würdigt. Das andere ist, welche Rolle die Konstellation von Gewalt und Heimerziehung spielen wird, die wir aufgearbeitet haben. Wenn dieses Drama nur zwei Sätze in einer Begrüßungsrede wert wäre, dann ist das zu wenig. Es muss einen bedeutsamen Stellenwert haben in dem Jahresprogramm der Jubiläumsfeierlichkeiten.

Ein Drama war und ist es bis heute für die betroffenen Heimkinder. Auch der Missbrauchsskandal feiert in diesem Jahr ein trauriges, fünfjähriges Jubiläum. Und viele Betroffene fürchten, dass sie bei den offiziellen Feierlichkeiten hinten runterfallen. Detlev Zander spricht gar von "Aufklärung im Schleudergang". Können Sie den Zorn verstehen?

Subjektiv-biografisch kann ich die Gefühlswelt verstehen und deuten, aber mit der Wirklichkeit des seriösen, transparenten und partizipativen Aufklärungsprozesses hat sie nichts zu tun. Da wurde nichts unter den Teppich gekehrt oder schöngebügelt, im Gegenteil – es ist gelungen, einen konflikt- und schmerzhaften Prozess mit großer Sensibilität und Empathie durchzuhalten. Übrigens haben wir auch Gewaltvorkommnisse bis in die 2000er Jahre einbezogen.

Sie haben insbesondere die Strukturen der Evangelischen Brüdergemeinde untersucht. Haben Sie ein Korntaler Spezifikum entdeckt, etwas Spezielles, das diesen Missbrauch an Heimkindern gefördert hat?

Noch gibt es keine vergleichenden Untersuchungen. Aber natürlich kenne ich die anderen Berichte und weiß, dass es auch in anderen Kinderheimen eine strafende, autoritäre, hierarchische Erziehungsstruktur gab. In Korntal kam eine sendungsorientierte, religiöse Autorität dazu – es gab einen religiösen Alltag, eine nicht hinterfragte Religiosität, in die Erzieher und Kinder eingebunden waren und wo Letzteren das Böse ausgetrieben werden sollte. Sie sollten mit religiös-autoritärer Gottesfurcht zu sogenannten normalen und angepassten Bürgern gemacht werden, die ihr Leben auf die Reihe kriegen.

Das war, wie ich aus Gesprächen mit Betroffenen weiß, für die ehemaligen Heimkinder eine zusätzliche große Belastung: Weil zu der autoritären Kälte noch das religiöse Verfehlen dazukam.

Und damit ein ständiges Schuldbewusstsein, ein schlechtes Gewissen. Viele haben das so verarbeitet, dass sie Religion und Religiosität hassen und heute mit Abscheu betrachten. Unter pädagogischen Gesichtspunkten, Kinder so – autoritär und strafend – mit Religiosität und Gott zu konfrontieren, ist das aus heutiger Sicht ein Supergau.

Damit haben Sie sich nun ein Jahr lang beschäftigt. Was kann, was muss die Evangelische Brüdergemeinde daraus lernen?

Ich bin mit der Rekonstruktion des Aufklärungsprozesses bis zu diesem Punkt sehr einverstanden. Bei anderen Fällen von Gewalt und Missbrauch in Heimen ist es so, dass der Bischof einen Auftrag gibt, dass das Ministerium sagt, was zu machen. Dass es wie hier in Korntal – bei allen Kontroversen – eine Aufarbeitungsgruppe gab, dass es eine Moderation gab, eine Informationskultur, eine Vortragsreihe – das ist eine Struktur, die findet man nicht so oft.

Ein Lob also an die Brüdergemeinde, die mit Anerkennung während des vierjährigen Aufklärungsprozesses nicht eben verwöhnt wurde. Nochmal gefragt: Wie geht es nun weiter?

Jetzt geht es in die nächste Runde. Es geht darum, eine Erinnerungskultur aufzubauen und präsent zu halten. Auf der einen Seite als Teil der Brüdergemeindearbeit. Da ist nun die Frage, was bietet man an: zum Beispiel eine Ausstellung, eine Dauerausstellung, eine Tafel. Viele der Betroffenen sind im Rentenalter, viele sind verstorben, viele wollen ja gar nichts mehr damit zu tun haben. Aber diejenigen, die das Thema für sich weiter biografisch verarbeiten wollen, denen muss Gelegenheit gegeben werden, sich zu treffen und an der Gestaltung dieser Erinnerung an ein dunkles Kapitel mitzuarbeiten.

Viele Heimkinder leiden darunter, dass ihr Martyrium hinter Mauern stattfand, keiner hat es gesehen und keiner hat ihnen geglaubt. Die haben für Öffentlichkeit gekämpft und wollen nun auch eine öffentlich sichtbare Genugtuung. Also einen öffentlichen Ort, wo auf ihr Leid aufmerksam gemacht wird. Sie wollen öffentlich wahrgenommen werden. Können Sie das verstehen?

Ja, das ist eine Option und richtig aus der Perspektive der Betroffenen. Es gibt auch eine strukturelle, eine organisationsbezogene Perspektive nach dem Motto: Wir von der Brüdergemeinde stellen uns unserer Geschichte und präsentieren sie öffentlich. Bis dahin, dass Schulklassen kommen und dass Heimerzieher in ihrer Ausbildung sagen: Hier gibt es eine Ausstellung, ein gesellschaftliches Lernangebot, das die Betroffenen einbezieht. Die Nachfolgegenerationen müssen angesprochen werden.

Ein öffentlicher, sichtbarer Ort ist auch das Jubiläum und der Festakt im Sommer. Wurden Sie schon um einen Redebeitrag beim Festakt gebeten?

Nein, bisher nicht. Das sind Planungen innerhalb der Brüdergemeinde, in die wir nicht involviert sind.

Festredner Günther Oettinger steht jedenfalls schon fest, das ist auf der Homepage zum Jubiläum zu lesen.

Ganz sicher wäre so ein Festakt eine gute Gelegenheit, ein Signal an die Betroffenen und in die Öffentlichkeit, dass man sich auch diesen unrühmlichen Teil der eigenen 200-jährigen Geschichte ernsthaft vergegenwärtigt. Die Geschichte des Missbrauchs in den Heimen der Brüdergemeinde darf kein Randaspekt sein bei einem Jubiläumsfest, indem nebenbei in einem Grußwort auf dieses Drama verwiesen wird.

Missbrauchsskandal in Korntal

Ein Kontextartikel verschaffte den Missbrauchsvorwürfen ehemaliger Heimkinder Gehör. Doch die Evangelische Brüdergemeinde tut sich schwer mit der Aufarbeitung.

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6 Kommentare verfügbar

  • Ludwig Pätzold
    am 11.02.2019
    Antworten
    Die beiden Poster über den Aufklärungsprozess in der Ausstellung der Brüdergemeinde sind kurz und sachlich in Ordnung. Über das Ergebnis der Aufklärung findet sich aber nichts in der Ausstellung. Das Wort „Missbrauch“ kommt zweimal vor, die Brüdergemeinde beklagt das Leid, das den Heimkindern…
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