KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Ein Herz für die Heimopfer

Ein Herz für die Heimopfer
|

Datum:

Lange hat Bischof Otfried July geschwiegen. Kein Wort zum Leiden der ehemaligen Korntaler Heimkinder und den Missbrauchsvorwürfen gegen die Evangelische Brüdergemeinde. Jetzt spricht er in Kontext. "Für die Opfer bin ich voller Empathie", betont July, ihr Leiden müsse "gehört und gewürdigt" werden.

Herr Bischof, Sie brechen erstmals Ihr Schweigen und reden über die Missbrauchsvorwürfe gegen die Evangelische Brüdergemeinde in Korntal. Tun Sie das, weil Weihnachten vor der Tür oder die Sache kurz vor der Explosion steht?

Ob die Sache kurz vor der Explosion steht, kann ich nicht beurteilen. Aber mit der Zusage der Landshuter Professorin Mechthild Wolff, die Vorkommnisse wissenschaftlich aufzuarbeiten, ist Bewegung in diesen schwierigen Prozess gekommen, und darüber bin ich froh. Ich habe den Eindruck, dass die Korntaler sich mit dieser Ernennung sehr bemüht haben und die Opfer spüren, dass ihr Anliegen ernst genommen wird. Die Brüdergemeinde muss diesen Prozess gemeinsam mit den Betroffenen gut nach vorne bringen, damit ein wirklicher Dialog entsteht.

Was Sie als eine Art Befreiungsschlag sehen, betrachten die Heimopfer als Affront: Man habe sich auf Januar verabredet, um gemeinsam nach einer geeigneten Person zu suchen. Nun erfahren sie, dass die Brüdergemeinde schon jemanden bestimmt hat. Dieses Vorgehen ist bestenfalls dilettantisch, ganz sicher aber kein wirklicher Dialog.

Das bedaure ich auch. Doch in diese Verabredungen war und bin ich nicht mit einbezogen. Ich habe mit der Brüdergemeinde keinen täglichen Kontakt. Aber ich will nicht ausweichen: Es wäre schöner, wenn man in Korntal die Kommunikation so verbessern könnte, dass es nicht mehr zu solchen Missverständnissen kommt.

Wie konnte es zu diesem Fehlstart kommen?

Die Kommunikation ist in dieser Situation schwierig. Die Betroffenen sind durch das Leid, das sie erfahren haben, hoch sensibilisiert. Ganz deutlich will ich hier sagen, dass meine Sorge und die Sorge der Landeskirche den Opfern gilt. Aber so sehr man sich für die Heimopfer engagiert: Auch für die Brüdergemeinde ist das eine schwierige Situation. Sie waren überrascht von der Vielzahl der Opfer, die sich gemeldet haben, und brauchten Zeit, um Expertise und Strukturen aufzubauen. Ob dieser Prozess immer gut gelungen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Zumindest sind nicht alle Gespräche gelungen, sonst stünden wir jetzt nicht vor der Situation, dass auf eine kompetente Frau wie Mechthild Wolff so ablehnend reagiert wird. Das spricht nicht für Vertrauen.

Das scheint die Brüdergemeinde aus eigener Kraft nicht zu schaffen, wie das jüngste Beispiel zeigt. Wie können Sie als Landesbischof, wie kann die Landeskirche dabei helfen?

Mein Augenmerk gilt der schonungslosen und transparenten Aufarbeitung. Das dient letztlich auch der Korntaler Brüdergemeinde, und das weiß man dort auch. Es ist noch zu früh, zu beurteilen, ob die Situation völlig verfahren ist. Ich hoffe jedenfalls, dass durch die jüngsten Kommunikationsschwierigkeiten nicht der ganze Prozess zum Stillstand kommt. Mit der Ernennung von Frau Wolff wurde eine Brücke gebaut, und wir werden sehen, ob es gelingt, diese Brücke zu beschreiten.

Nochmals: Warum haben Sie so lange geschwiegen zu Korntal und damit die Opfer allein gelassen, deren Glaubwürdigkeit immer wieder angezweifelt wurde? Und bitte nicht wieder das Argument hervorholen, die Brüdergemeinde sei eben eine eigenständige Körperschaft.

Aber das ist doch ein wichtiger Punkt. Für die Opfer bin ich voller Empathie, da brauchen Sie bei mir keine Tür zu öffnen. Andererseits muss ich respektieren, dass die Evangelische Brüdergemeinde eine eigenständige Einrichtung ist. Anfang November habe ich ein Gespräch mit dem Vorstand der Brüdergemeinde geführt und darauf hingewiesen, wie wichtig die schnelle Aufarbeitung ist. Mit diesen Gesprächen konnte ich mehr erreichen, auch im Sinne der Opfer, als auf dem öffentlichen Markt. Das mögen Sie als Journalistin anders sehen.

Das sehen vor allem die Opfer anders. Die haben auf eine Wort von Ihnen, von der Landeskirche gewartet, ein Signal, dass ihr Anliegen ernst genommen wird.

Es gibt Situationen, in denen es hilfreicher ist, nichtöffentliche Gespräche zu führen. Das ist nach außen nicht so leicht zu vermitteln, aber darauf muss ich bestehen.

Und was ist mit der moralischen und theologischen Verpflichtung einer Landeskirche? Korntal liegt 13 Kilometer von Ihrem Amtssitz hier auf der Stuttgarter Gänsheide entfernt. Warum haben Sie nie gesagt: Es tut mir leid?

Wenn ich das sage, übernehme ich Verantwortung für dieses Heim in Korntal. Doch das kann ich nicht tun.

Die Brüdergemeinde ist nicht die Odenwaldschule, sondern mit der Landeskirche vertraglich verbunden. Ein Wort des Bedauerns des Landesbischofs wäre ein Signal gewesen.

Ich habe einem Heimopfer, das mir einen Brief geschrieben hat, geantwortet und sehr deutlich gemacht, wo mein Herz schlägt.

Im Juli sagten mir der Pressesprecher der Landeskirche und der Diakonie, sie stünden den Korntalern mit Rat und Hilfe zur Seite. Mitbekommen hat davon niemand etwas.

Das kann man nicht alles ins Schaufenster stellen, da muss man sich zunächst über die Abläufe verständigen. Ob das immer gleich gut gelungen ist, vermag ich nicht zu beurteilen.

Wann haben Sie die Brüdergemeinde zuletzt besucht?

Weil ich die Brüdergemeinde näher kennenlernen wollte, hab ich sie im Februar dieses Jahres zwei Tage lang besucht und geschaut, was sie heute machen. Zur Geschichte: Ein Teil der Pietisten wollte Anfang des 19. Jahrhunderts ja aus Württemberg wegziehen, weil es ihnen hier zu liberal und zu wenig fromm war. Damals hat der König ihnen zugesichert, dass sie mit der Landeskirche nichts zu tun haben und nur der König eine Besuchsbeziehung pflegen wollte.

Haben Sie die Verantwortlichen angesprochen?

Damals war mir der Fall nicht bekannt, sonst hätte ich das sicher angesprochen. Und danach war ich nicht mehr dort.

Herr July, haben Sie Fehler gemacht? Haben Sie zu lange geschwiegen?

Man kann das unterschiedlich bewerten, welcher Zeitpunkt richtig ist. Ich glaube, dass der jetzige der richtige ist.

Wie wird die Landeskirche den zukünftigen Prozess der Aufarbeitung unterstützen?

Ich finde es wichtig, dass Frau Wolff sowohl mit den Betroffenen als auch der Brüdergemeinde eine ordentliche Kommunikation hinbekommt. Es wird eine Mediation nötig sein, aber vor allem muss mit der Aufarbeitung begonnen werden. Den Opfern will ich deutlich sagen: Ihr habt unsere Empathie. Und jetzt müssen wir sehen, wie die nächsten Schritte von Frau Wolff organisiert werden.

Die Landeskirche benennt beim Evangelischen Kirchentag 2015 in Stuttgart drei regionale Themenfelder. Wird der aktuelle Fall vor der Haustür diskutiert werden?

Es gibt keinen Grund, sich diesem Thema zu verweigern. Und die Beauftragte für Chancengleichheit der Landeskirche ist deswegen schon mit dem Präsidium des Kirchentags im Gespräch, um das Vorgehen abzustimmen.

Bisher wurde das abgelehnt, mit dem Hinweis, dass man sich schon lange auf die Themen geeinigt habe und kein Platz mehr für neue sei.

Nein, wir bemühen uns darum. Einer meiner Leitsätze war immer: Kirche nahe bei den Menschen. Deshalb bin ich viel unterwegs im Land, spreche mit den Leuten, gehe in die Gemeinden. Wenn Menschen in diesem Land geschädigt wurden, wenn sie Not und Leid auch durch Religion oder religiös geprägte Menschen erfahren haben, dann ist das ein Thema für die Landeskirche und auch für den Evangelischen Kirchentag.

Das Jahresende ist die Zeit der guten Wünsche. Sie sind zwar weder das Christkind noch der Weihnachtsmann, aber der Landesbischof. Was wünscht der den Korntaler Betroffenen zum neuen Jahr?

Ich wünsche den Heimopfern, dass sie erfahren und spüren, dass ihr Leiden gehört und gewürdigt wird, indem man ihnen zuhört. Und ich wünsche mir, dass eine offene und vertrauensvolle Atmosphäre entsteht, dass das geschehen kann. Der Brüdergemeinde wünsche ich, dass sie auf dem jetzt eingeschlagenen Weg mutig weiterschreitet, offen und transparent und mit der Expertise, die dafür notwendig ist. Und Frau Wolff wünsche ich Standhaftigkeit, Empathie und vor allem gute Nerven.

Seit neun Jahren ist Frank Otfried July Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er zählt zum 40-köpfigen Zentralausschuss der Konferenz Europäischer Kirchen und ist außerdem Kuratoriumsmitglied des evangelikalen Vereins ProChrist. Im Juli 2010 wurde July neben sieben weiteren Geistlichen zum Vizepräsidenten im Lutherischen Weltbund gewählt. Der 60-Jährige ist verheiratet und hat vier Kinder.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


4 Kommentare verfügbar

  • D.G.L.
    am 30.12.2014
    Antworten
    Danke an By-the-way.

    Endlich jemand, der sich mit diesem Thema befaßt.

    Pro-Christ ist ein evangelikaler Verein, kommt aus AMERIKA ihr Prediger ist ULRICH PARZANY !!!

    In diesem Verein sollen Kinder gezüchtigt werden, schwul ist heilbar, hierfür gibt es Seminare. usw.
    Kann es sein,…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!