Reißerisch. Das war ihr erster Gedanke, als sie zum ersten Mal von der leidvollen Geschichte der ehemaligen Heimkinder in Korntal bei Stuttgart las. Von den Schlägen und der seelischen Grausamkeit im dortigen Hoffmann- und Flattichhaus in den 60er- und 70er-Jahren, vom sexuellen Missbrauch in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde, den Demütigungen und den Angst einflößenden Strafen, unter denen die Kinder von damals als Erwachsene noch heute leiden (wir berichteten). Kinderhölle Korntal, dachte die Lehrerin empört, die in genau dieser Zeit drei Jahre an der dortigen Schule für schwer erziehbare Kinder unterrichtete, ich war doch da, so war das nicht.
Oder doch?
Reißerisch – ein Wort wie ein Schutzschild, um die Fragen nicht zuzulassen und die Zweifel, die Heide Scherer schon bald nach der ersten Empörung quälten: Und was ist, wenn es doch so war? Welche Schuld trifft mich? Warum habe ich nichts bemerkt? Oder wollte ich es nur nicht wahrhaben wie alle anderen auch? Die 71-Jährige Lehrerin hat sich den Fragen gestellt. Sie hat das Gespräch gesucht, mit Freunden, ehemaligen Kolleginnen, mit ihren damaligen Schülern, und dabei ihre Erinnerungen gefunden an die Zeit vor 45 Jahren in Korntal. "Es kostet mich viel Kraft", sagt sie.
Der Fahrradkeller – eine Erinnerung, die sie besonders quält
Heide Scherer ist eine engagierte Bürgerin, eine, die es sich auch im Ruhestand im badischen Schopfheim nicht bequem macht, die aufmerksam ihre Zeitung liest, die alles genau wissen will. An diesem Sommertag sitzt sie auf ihrem Balkon, der das Eigenheim umrahmt wie ein grüner Schal. Drinnen stehen der Flügel und die Bücherwände, draußen zwitschern die Vögel, und eine nachdenkliche Frau ist auf der Suche nach der Wahrheit. Auch, wenn es weh tut. "Ich lerne viel", sagt sie, "auch, meinen ganzen Mut zusammen und meine Erinnerungen ernst zu nehmen." Die Bilder etwa, die sie vor dem Einschlafen überfallen, von ihrem damaligen Klassenzimmer in Korntal, vom Schulhaus, vom Fahrradkeller. Der Fahrradkeller - eine Erinnerung, die sie besonders quält.
Die 26-jährige Junglehrerin unterrichtet in ihrem Korntaler Klassenzimmer, es ist ein ganz normaler Schultag im Jahr 1968. Ein kleiner Junge mit dicker Brille sitzt in ihrer Klasse, "eher hinten, am Schrank", erinnert sie sich. Der Hausmeister kommt herein. Ob der Detlev mitkommen könne? Er wolle ihm helfen, sein Fahrrad reparieren. "Das ist doch nett", dachte sie damals und ermunterte ihren Schüler, mitzugehen. Es war Detlev Zander, der heute eine Klage gegen die Diakonie Evangelische Brüdergemeinde anstrebt, der ebendiesem Hausmeister vorwirft, ihn über Jahre sexuell missbraucht zu haben und der Evangelischen Brüdergemeinde, sich ihrer Vergangenheit nicht zu stellen.
Und immer wieder fragt sich Heide Scherer: Hätte ich etwas merken müssen von diesem Missbrauch? Von den Schlägen im Heim, wenn der Unterricht zu Ende war, von den Grausamkeiten in den Wohngruppen, die so hübsche Namen trugen wie Rotkehlchen, Leuchtkäfer und Dachschwalben? "Wir Lehrer haben nicht geschlagen", sagt Heide Scherer. Und kann doch nur sicher sagen, dass sie nicht geschlagen hat. Dass der Schulalltag hart war. Dass die Kinder aus zerrütteten Familienverhältnissen kamen und im Heim auch nicht die Zuwendung erhielten, die sie so dringend gebraucht hätten.
Der pädagogische Alltag war hart
Noch so ein Erinnerungsfetzen. Von einem anderen kleinen Jungen, einem, der den Unterricht störte, aus dem Fenster stieg und auf dem Sims balancierte. Den Heide Scherer mühsam hereinlockte, der sich wehrte, jähzornig, den sie so lange umarmte, bis er aufhörte, um sich zu schlagen. Ihre Arme waren zerkratzt, ihre Strümpfe hatten Laufmaschen, aber der Schüler hatte sich beruhigt. "Der Alltag war hart, auch für uns Lehrer", sagt sie heute, "aber wir haben versucht, pädagogisch wertvolle Arbeit zu leisten."
Sie hat den Jungen, sein Name war Uwe, erinnert sie sich jetzt, für ein Wochenende mitgenommen zu ihren Eltern nach Ulm, wo er zum ersten Mal an einem festlich gedeckten Tisch saß. Er war völlig erschreckt, als er den Kakao umstieß auf das weiße Tischtuch. Das Kind erwartete Schläge und böse Worte und war erstaunt, als die Mutter seiner Lehrerin nur lapidar sagte: "Kann schon mal passieren, nicht so schlimm."
Heide Scherer war eine Einzelkämpferin wie fast alle ihre Kollegen. Die Junglehrerin hat sich durch den Schulalltag gebissen, in ihren zwei Klassen, der 2. Und in der 3. waren 18 schwer erziehbare Kinder, so hieß das damals. Sie hat sich bemüht, ihre Kinder zu verstehen, sie war nicht angepasst und nicht brav, "ich denke, ich war eine Herausforderung für den Schulleiter". Ihre Abschlussarbeit hat sie über den Wortschatz der Heimkinder geschrieben.
3 Kommentare verfügbar
Martina Poferl
am 13.08.2014ja auch mir hat dieser Bericht die Tränen kommen lassen.Es ist nicht leicht sich den Erinnerungen zu stellen und ich möchte mich bedanken,dass Sie Frau Scherer uns unterstützen.
Danke Frau Stiefel,dass Sie dran bleiben.
Es darf nicht unter den Tisch…