KONTEXT:Wochenzeitung
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Das Heilige und der Teufel

Das Heilige und der Teufel
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Zum ersten Mal äußert sich ein Kirchenmann zum Konflikt um die missbrauchten Korntaler Heimkinder. Der pensionierten Prälat Martin Klumpp fordert eine schnelle Aufarbeitung. "Mit Verschweigen, Vertagen und Vertuschen wird die Sache immer schlimmer", sagt der evangelische Geistliche im Kontext-Interview.

Herr Klumpp, Sie kennen die Vorwürfe der ehemaligen Korntaler Heimkinder: Missbrauch, Demütigungen, Kinderarbeit, nicht nur aus Veröffentlichungen. Sie wurden um seelsorgerlichen Rat gefragt.

Das sind ja nicht nur Vorwürfe, sondern auch Schmerzen und Leidenserfahrungen. Denn das Heim war Heimat, war Familienersatz, und da suchen Kinder eigentlich Mütterliches, Väterliches, Geborgenheit und erleben dann Missbrauch. Das hinterlässt lebenslängliche Spuren. Deshalb ist es wichtig, das ernst zu nehmen.

Diesen Eindruck haben viele der Betroffenen nicht. Sie fühlen sich konfrontiert mit Gegenvorwürfen und Unterstellungen: Sie würden übertreiben und dramatisieren, wollten nur Geld rausholen oder wollten sich rächen. Welchen Eindruck hatten Sie nach Ihrem Gespräch mit einem ehemaligen Heimkind aus Korntal?

Im seelsorgerlichen Gespräch, das ich geführt habe, hat sich bei mir eine große Hochachtung vor meinem Gesprächspartner entwickelt. Er hat mich teilweise vom Seelsorgegeheimnis entbunden, sonst würde ich nicht mit Ihnen sprechen. Er hat die Missbrauchserfahrungen in seinem Leben verortet, und er hat aus seinem Leben das Beste machen können. Da sitzt man dann da und sagt: Holla. Das bewegt mich. Dieser Mann hat eine bemerkenswerte Fähigkeit, zur Sprache zu bringen, was ihn bewegt. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass er sich rächen will. Er erwartet allerdings, dass er ernst genommen wird mit dem, was er erfahren hat, und das kann ich nachvollziehen. Denn nur dann kann er mit der Verletzung umgehen, die ihm der Missbrauch zugefügt hat. Im Vordergrund unseres Gesprächs standen nicht aggressive Vorwürfe gegen das Heim, sondern eine ganz ernsthafte Auseinandersetzung mit den psychischen Verletzungen und Belastungen, die durch Missbrauch entstanden sind. Ganz klar wurde mir, dass die Sache mit Verschweigen, Vertagen oder Vertuschen immer schlimmer wird. Deshalb finde ich es wichtig, dass man in aller Sachlichkeit und Gründlichkeit zu klären versucht, was wann, durch wen und an wem geschehen ist.

Die Brüdergemeinde, aber auch die Kirchenpolitiker verweisen gerne auf den Fonds Heimerziehung und den Topf der Diakonie, in den sie eingezahlt haben. Ist damit genug gesagt und getan? 

Ich finde, zuerst kommt die Wahrheit. Dass man gemeinsam die Wahrheit sucht, auch wenn sie, etwa für den Träger des Heims, eine unangenehme Wahrheit ist. Es ist richtig, dass dadurch der gute Ruf des Heims, auf den man Wert gelegt hat, beschmutzt werden kann. Manche fragen auch, wie so etwas in einer so christlichen Einrichtung geschehen konnte. Dennoch: Zuerst kommt die Suche nach der Wahrheit, und ich glaube, dass man die mit jedem einzelnen Betroffenen suchen muss. Es gibt keine zwei gleichen Missbrauchserfahrungen und auch keine zwei gleichen Umgehensweisen der Betroffenen. Manche leiden nachhaltiger. Andere kommen mit ihrem Leben zurecht, haben aber trotzdem einen Anspruch, dass ernst genommen wird, was sie über ihre Leidenserfahrungen berichten. Daran führt nichts vorbei.

Die Suche nach der Wahrheit, die Sie ansprechen, kommt nicht voran. Im Juni 2013 ging Detlev Zander zur Brüdergemeinde, im Mai 2014 hat er sich einen Anwalt genommen, weil sich nichts bewegt hat, und damit den Stein ins Rollen gebracht. Nun scheint die juristische Auseinandersetzung die Aufarbeitung zu blockieren. Kann man aufarbeiten und rechtlich streiten? 

Man sollte das trennen können, aber das ist oft schwierig. Ich weiß etwa von Menschen, die durch einen Verkehrsunfall nachhaltig geschädigt wurden und die den Verursacher kennen. Sie sagen: Wenn er doch mal käme und sagte, es tue ihm leid. Aber das macht er nicht, weil sein Anwalt ihm abrät: keine Silbe zu etwas, das wie ein Eingeständnis wirken könnte. Ich finde das bedauerlich. Ich habe allerdings auch ein dezidiertes Verhältnis zum Rechtsstaat. Jeder Bürger, der sich ungerecht behandelt fühlt, hat das Recht, klären zu lassen, was die Rechtsprechung sagt. Das soll man ihm nicht übel nehmen und nicht dramatisieren. Ich erwarte allerdings auch, dass jemand, der juristisch nicht das erreicht, was er erreichen wollte, die Entscheidung des Gerichts akzeptiert.

Warum geht es dann nicht voran?

Noch etwas macht die Aufarbeitung schwierig: Wenn ich im Heim geschlagen werde, bin ich ganz alleine mit mir, niemand ist da, der mich tröstet, keine Mutter, kein Vater, keine Verwandten. Deshalb kann es sein, dass Dinge, die man im Heim erlebt, dramatischer erlebt werden. Der beschuldigte Träger kann den Eindruck bekommen: Jetzt werden wir absolut an den Pranger gestellt. Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht: Wenn man den Mut hat, die ganze Wahrheit zuzulassen, dann entsteht bei den Vertretern des Heimes und bei den früheren Heimkindern eine Betroffenheit, ein großes Bedauern über das, was geschehen ist. Das kann ja auch untereinander verbinden. Eine solche Aufarbeitung dient ja nicht nur der Beschuldigung, sondern auch der Frage, was wir tun können, dass sich solches möglichst niemals wiederholen kann.

Doch bis heute hat sich noch keine Projektgruppe zur Aufarbeitung gebildet. Erst vor wenigen Wochen hat ein Stuttgarter Professor, der die wissenschaftliche Aufarbeitung voranbringen sollte, abgesagt. Die Heimopfer fühlen sich hingehalten. Zu Recht?

In der Zeitung las ich, der angefragte Professor habe vorgeschlagen, dass die Heimkinder und das Heim gleichberechtigt am Tisch sitzen sollten. Mit diesem Vorschlag des Mediators hätte das Heim aber Probleme. Das habe ich allerdings nicht nachvollziehen können. Hatte das Heim die Befürchtung, unschuldig auf die Anklagebank gesetzt zu werden? Niemand sitzt gerne auf der Anklagebank. Auch wenn ich das nachvollziehen könnte, bleibt trotzdem die Frage: Wie können wir die Vertreter des Heims ermutigen, in diesen Prozess unerschrocken einzusteigen. Ich bin ja Theologe, und die Menschen in Korntal sind auch kirchlich und christlich gebunden. Haben wir das Vertrauen, dass man unter Christen über Schuld offen sprechen kann? Zumindest sollte die Motivation dazu da sein. Ich muss es wieder sagen: Wer verschleiert, macht alles nur schlimmer.

Ob es die Odenwaldschule ist, die katholische oder evangelische Kirche oder die Brüdergemeinde in Korntal: Die Einrichtungen, in denen Kinder missbraucht wurden, haben auch eine Verpflichtung den Menschen gegenüber, die leiden. Wie können sie der gerecht werden?

Wenn ein Mensch mit mir über seine Probleme sprechen will. dann verdient er, dass ich ihn ernst nehme. Das ist das Klima. Wenn die Heimverantwortlichen ganz offen erfahren wollen, wie es den Kindern im Flattich- und im Hoffmannhaus früher ergangen ist, wenn sie wirklich teilnehmen wollen und über das, was damals geschehen ist, traurig sind, dann verliert sich die Angst vor den Heimkindern recht schnell. Und dann können die Heimverantwortlichen auch sehen, welche Schädigungen ihre Gesprächspartner davongetragen haben. Das ist ja das schreckliche an Missbrauchserfahrungen, dass die psychischen Verletzungen immer wieder hochkommen können und dass es mit einer schnellen Therapie oft nicht getan ist.

Die betroffenen Korntaler Heimopfer sagen: Wir haben lebenslänglich.

Das ist so. Denn das Tragische ist ja, dass der Missbrauchstäter sein Opfer liebt und ihm Liebe schenkt. Das bedürftige Kind freut sich zunächst darüber, es bekommt eine besondere Rolle, eine besondere Nähe, und ein Heimkind ist da besonders bedürftig. Das ist das eigentlich Infame daran, dass es unter einem positiven Deckmantel "Ich mag dich und wir haben ein Geheimnis miteinander" geschieht. Das Kind wird an dem, worunter es so schrecklich leidet, auch noch beteiligt.

Noch ist Korntal mitten in einem schwierigen Aufarbeitungsprozess, der ins Stocken geraten ist. Welche Rolle kann die württembergische Landeskirche spielen, um diesen Stillstand zu überwinden?

Sie kann nichts erzwingen, denn die Evangelische Brüdergemeinde ist – so weit ich weiß – nicht weisungsgebunden als eigenständige Körperschaft. Die Landeskirche könnte eine ermutigende Hilfestellung anbieten. Ich selbst bin damit aber nicht befasst. Gehört habe ich, dass die Korntaler tatsächlich nach einer Persönlichkeit suchen, die das für sie und mit ihnen zusammen in die Hand nimmt. Ich kann nur hoffen, dass das so bald wie möglich in Gang kommt.

Umso dringlicher müsste sich Landesbischof July auf die Suche nach einer geeigneten Persönlichkeit machen, die die Aufarbeitung endlich anpackt.

Es ist nicht meine Sache, unserem Landesbischof in Interviews Ratschläge zu erteilen. Wenn er meine Meinung wissen will, darf er sie erfragen. Ein Mediator müsste in beide Richtungen ganz offen sein. Er braucht auch ein gewisses Vertrauen von beiden Seiten. Wichtig erscheint mir auch eine professionelle Dokumentation dessen, was die Heimkinder berichten. Dabei geht es nicht um das Waschen schmutziger Wäsche. Man braucht jedoch einen Überblick über alles, was geschehen ist. Erst wenn man das wagt, entsteht eine positive Betroffenheit. Ohne die kann keine Seelsorge und keine Befriedung gelingen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man ein Team von therapeutisch oder seelsorgerlich erfahrenen Frauen und Männern bildet, die eine umfassende Dokumentation erstellen und die dann auch fragen, wie man die einzelnen Betroffenen unterstützen kann. Bei Missbrauch entstehen Schädigungen, die man nie mehr ganz beheben kann. Umso wichtiger sind positive Zeichen für die Betroffenen.

Das ist die individuelle, therapeutische Seite. Welche Bedeutung hat die Aufarbeitung der Institution für die betroffenen Heimkinder?

Die Institution muss sich mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigen, in der es möglich war, dass es zu Missbrauch und Demütigungen kommen konnte. Sie muss nach Gründen suchen, auch nach theologischen Gründen. Das ist ja in der katholischen Kirche ähnlich. Es kann unter dem Deckmantel des Heiligen und Christlichen Schlimmes passieren, weil man in der Idealisierung dessen, was man tut, möglicherweise erblindet und das Dunkle nicht mehr sieht. Und deshalb finde ich genau diese Aufarbeitung, die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wichtig. Das haben wir ja ähnlich in der Auseinandersetzung mit der Euthanasie im Dritten Reich. Die Patienten wurden auch von christlichen Heimen abgeholt, und die Kirche ist nach 1945 darüber eine Zeit lang ziemlich stumm hinweggegangen, bis dann die Stunde der Wahrheit kam.

Sie sprechen die Strukturen an, die Missbrauch womöglich begünstigen? 

Da kommen wir in eine große Geschichte rein. Es gab jahrhundertlang die Pädagogik des Willenbrechens, das war ja nicht nur in den Heimen so. Auch das ist eine finstere Geschichte. Für die Brüdergemeinde ist das ein großer Bruch, das muss man mit einer Spur von Bedauern und Mitleid sagen. Sie hat ja eine kirchengeschichtlich interessante Geschichte, war ein soziales Modell in frühen Jahrhunderten, man spricht ja vom Heiligen Korntal. Und jetzt kommt plötzlich eine Schattenseite ins Geschichtsbuch. Das tut weh.

Im kommenden Jahr im Sommer findet in Stuttgart der Kirchentag 2015 statt. Was erwarten Sie von diesem evangelischen Großereignis in Stuttgart?

Ich sitze nicht im Kirchentagspräsidium. Wenn ich es täte, könnte ich mir überlegen, dass dies ein Thema werden könnte: Wie hängen Missbrauch und Kirche miteinander zusammen? Gibt es in der Kirche Strukturen, Kommunikationen, Identifikationen und Mentalitäten, die a) anfällig für Missbrauch sind und b) anfällig zur Vertuschung von Missbrauch sind? Überall wo Menschen sind, gibt es auch die Gefahr von Missbrauch. Wir müssen fragen, ob der Anspruch, dass wir alles im christlichen Geist gut machen wollen, vielleicht dazu führt, dass wir an diesem positiven Bild auch dann noch festhalten, wenn es schon brennt und knistert. In der Schule habe ich mal gehört, der Teufel sei der Affe Gottes. Das könnte heißen: Wo wir ganz hehr und heilig sein wollen, da ist der Teufel auch nicht weit. Im Ernst gesprochen: Weil Missbrauch offensichtlich überall möglich ist, sollten wir überall, wo zwischen Helfenden und Abhängigen intime Situationen entstehen können, Kontrollmechanismen einbauen.

Und was unternimmt nun der Exprälat Martin Klumpp, nachdem er in einem seelsorgerlichen Gespräch erfahren hat, was in Korntal geschehen ist und was viele Menschen bewegt?

Zunächst geht es in der Seelsorge immer um das, was diesen einzelnen Menschen, der sich an mich wendet, bewegt. Es geht auch nicht in erster Linie darum, was ich tue. Trotzdem bewegt mich das sehr. Ich fühle mich zwar nicht schuldig, aber ich identifiziere mich auch mit unserer Kirche. Deshalb tut es mir leid, was da geschehen ist. Wenn ich etwas zur Besserung mithelfen könnte, würde ich das tun.

 

Martin Klumpp (74) ist bekannt als liberaler Theologe. In seinem über 40 Jahre langen Pfarrdienst stieg er vom Gemeindepfarrer bis zum zweithöchsten Amt der Evangelischen Landeskirche auf. Sieben Jahre lang war er Prälat von Stuttgart. Bis heute ist der Pensionär aktiv. Er ist Mitbegründer und ehrenamtlicher Mitarbeiter des Hospizes Stuttgart.


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6 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Scheuffele
    am 10.12.2014
    Antworten
    Die Landeskirche hat sich ja in der Vergangenheit, was die Aufarbeitung in Korntal angeht sehr bedeckt gehalten und geschwiegen. Zwei Briefe von mir an den Landesbischof wurden bis heute nicht beantwortet. Man verschanzt
    sich, wie auch Prälat Klumpp in seinem Interviewe erwähnt dahinter, dass man…
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