Eigentlich wollte die Freundin zu diesem Gespräch dazukommen, endlich reden, sich nicht nur der Veronika öffnen, aus der Anonymität treten. In letzter Minute hat sie der Mut verlassen. Zu sehr wühlt es sie auf, das nun schon zweijährige Tauziehen, die Gesprächsangebote der verantwortlichen Brüder, die ihr in E-Mails versprochen, die aber nie Wirklichkeit wurden. "Das ist wie früher in Korntal", schreibt sie in einer Mail, "außer leeren Versprechungen ist nichts gewesen." Die Freundin hat hier keinen Namen, sie will anonym bleiben. Aber sie gibt nicht auf.
Und sie hat Vertrauen zu Veronika Unfried. Sie darf ihre Mail weiterleiten, ohne Absender. Sie darf für sie sprechen, so wie sie ihrerseits auch ihr berichtet von den Treffen der Opferhilfe. Zu denen geht sie alleine hin, als engagiert Korntalerin, aber auch als Stellvertreterin. Sie will ihre Freundin schützen und unterstützen.
"Außer leeren Versprechungen nichts gewesen"
Veronika Unfried sitzt auf ihrer Terrasse mit Blick auf Korntal, rote Zehennägel, wache Augen, 74 Jahre alt, luftiger Sommerrock, Zigarettenspitze, "weil das gesünder ist", aufhören will sie nicht, der Mann raucht auch, sie lacht. Seit ihrer Kindheit lebt sie in Korntal, heute in dem Haus, in dem schon Hermann Hesse gewohnt hat, mit dem Türmchen, ein Kindheitstraum, der vor zehn Jahren Wirklichkeit geworden ist. Und erst, als Detlev Zander mit seiner Millionenklage gegen die Brüdergemeinde die Korntaler aufschreckte, hat sie vom Leid der ehemaligen Heimkinder direkt vor ihrer Haustür erfahren. "Ich wusste von nichts", sagt Unfried. Das hat sie beschämt.
Und manchmal hat sie ein schlechtes Gewissen, weil es ihr so gut ging, als sie klein war, und manchen Kindern in den Korntaler Kinderheimen so schlecht. Weil sie eine glückliche Kindheit hatte, und andere mit einer so drückenden Last ins Leben starten mussten, einer Hypothek, die viele von ihnen bis heute abzahlen. Weil sie als langjährige, leidenschaftliche Grundschullehrerin weiß, was Kinder brauchen: Aufmerksamkeit, Liebe, Zuwendung.
"Der Hauptpunkt von Korntal sind für mich die unendlichen Demütigungen, Missachtung und Nichtbeachtung, das 'Nichtsehen' der Kinder. Du kennst ja als Mutter, wie das wichtig ist für die Kinder, dass sie den 'Glanz im Auge der Mutter' erfahren.Aber wenn ich an die 'Schwarzen Raben' (= schwarz gekleidete Diakonissen) im Kleinen Kinderheim denke, erinnere ich da nur Dunkles, Ungeduldiges und 'Schwarzes' in ihren Augen. Der seelische Missbrauch ist schon unerträglich. Wie schlimm ist dann erst der körperliche??!!!", schreibt die Freundin ihrer Mail.
Fünf Jahre saß Veronika Unfried für die SPD im Korntaler Gemeinderat, seit Jahrzehnten trifft sie sich mit ihrer Frauengruppe, ist aktiv im BUND, bei den Freunden der Stadtbibliothek, und alle drei Woche übernimmt sie eine Nachtschicht bei der S-21-Mahnwache am Stuttgarter Hauptbahnhof. Sie singt im Chor der örtlichen Musikschule und stellt immer wieder fest, dass viele Korntaler am liebsten nicht wissen wollen, was dort in den Kinderheimen in ihrer Nachbarschaft geschehen ist.
15 Kommentare verfügbar
Ulrich Scheuffele
am 18.07.2016zum dem Thema AfD sollte man wissen, dass einer der führenden AfDler im Landkreis Ludwigsburg auch im Brüdergemeinderat in Korntal sitzt.