Denn die Realität der Handwerker und Arbeiter spielte sich in den schlechteren Vierteln der Städte ab. Laut Gewerbeordnung hatte der Lehrmeister die Erziehungsgewalt über seinen Schutzbefohlenen, konnte ihn nach Belieben maßregeln, zudem bestimmen, wie der Lehrling seine Freizeit zu verbringen habe. Der Lohn war gering oder es war sogar Lehrgeld zu bezahlen. Meist musste der Lehrling auch noch mit seinem Meister unter einem Dach leben, musste dann im Haushalt mithelfen und kam so oft auf 13 bis 14 Arbeitszeit am Tag. Keineswegs bot das Handwerk goldenen Boden, ein Großteil der Ausgebildeten fand nach der Lehre keine Anstellung im erlernten Handwerk. So blieb nur der Weg in die Fabrik. Und dort betrug die Arbeitszeit pro Woche über 60 Stunden. Bosch eröffnete erst 1913 seine erste Lehrwerkstatt, die Daimler-Motoren-Gesellschaft drei Jahre später.
Auf Betreiben des aus dem Badischen stammenden 30-jährigen Rechtsanwalts Ludwig Frank konstituiert sich im Herbst 1904 der "Verein junger Arbeiter Mannheims". Wesentliches Ziel ist der Schutz der schulentlassenen Jugend gegen überlange Arbeitszeiten und Übergriffe im Betrieb. Schon zwei Jahre später konnte Organisator Frank in der Großherzoglich Badischen Residenzstadt Karlsruhe den "Verband junger Arbeiter Deutschlands" ausrufen lassen, zum Jahresende zählte man 37 süddeutsche Ortsvereine mit 3000 Mitgliedern. In der eigenen Zeitung, "Die junge Garde", schrieb man gegen die zunehmend militarisierte Gesellschaft an und setzte die Hoffnung auf Völkerverständigung und Friedenswillen dagegen. In Württemberg wiederum gründete eine Gruppe um den SPD-Vorsitzenden Friedrich Westmeyer und die Parteilinke Clara Zetkin eine parteiinterne Freie Jugendorganisation. Am 18. August 1907 geriet die württembergische Residenzstadt in die Schlagzeilen, weil sich auf dem Cannstatter Wasen 60 000 Menschen zur Eröffnung des Internationalen Sozialistenkongresses eingefunden hatten. "Rote Fahnen dürfen nicht zur Verwendung gelangen", ordnete die Genehmigungsbehörde an. Auch hatte den Verhandlungstagen ein "Polizeibeamter in bürgerlicher Kleidung" beizuwohnen. Unter den 884 Delegierten aus 25 Ländern war auch Wladimir Iljitsch Lenin, der im "Proletari" Nr. 17 den Kongreß kommentiert hat.
Zum Ärger der preußischen Jugendwächter in der Reichshauptstadt kam es eine Woche später im liberalen Stuttgart zur ersten Sozialistischen Internationalen Jugendkonferenz mit 20 Delegierten aus 13 Ländern. Kampf gegen den Militarismus und die Bildungsfrage standen auf der Agenda, die Hauptrede hielt Karl Liebknecht, auch Ludwig Frank war zugegen. Nur aus Preußen gab es keine Delegierte, weil dort der politische Zusammenschluss Jugendlicher untersagt war.
Doch die Reaktion der patriotisch-militärischen Kräfte im Kaiserreich erfolgte prompt. Man instrumentalisierte die konservative Mehrheit im deutschen Reichstag und mit Wirkung vom 15. Mai 1908 trat ein verschärftes Reichsvereinsgesetz in Kraft. Dessen Paragraf 17 lautete: "Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, dürfen nicht Mitglieder in politischen Vereinen sein und weder in den Versammlungen solcher Vereine noch in öffentlichen Versammlungen anwesend sein." Das zielte eindeutig gegen die freie Arbeiterjugend. Der inzwischen dem Reichstag angehörige Ludwig Frank löst umgehend den süddeutschen Verband des "Vereins junger Arbeiter" auf, um die organisierten Jugendlichen nicht unnötig zu gefährden.
Kriegsspiele im Turngau Schwaben
Dagegen stellte sich der Sport stramm in den Dienst der Wehrerziehung. Im Turnblatt aus Schwaben der Deutschen Turnerschaft war im Jahr 1911, mit Datum 12. März, im Nagold-Gau von einem Kriegsspiel "bei schönstem Frühlingswetter" zu lesen: "Der untere Gau mit 200 Mann unter der Führung des ersten Gauturnwarts hatte als rote Partei den Auftrag, die Burg Hohennagold zu stürmen." Es folgte ein launischer Bericht, wie die weiße Partei des oberen Gaus mit fast 400 Mann als weiße Partei ("ganz die alten Soldaten verratend") sich der Angriffe zu erwehren hatte. Mit dem der SPD nahestehenden Arbeiter-Turnerbund wollte die aufrechte deutsche Turnerschaft nichts zu tun haben: "Unser Ziel, die körperliche Ertüchtigung und die sittliche Bewahrung der Jugend zu fördern, kann nur erreicht werden, wenn alle, die hier mitwirken wollen, als notwendige Voraussetzung dieser hohen Aufgabe Pflege der Heimat und des deutschen Volksbewusstseins und vaterländischer Gesinnung rückhaltslos anerkennen." Der Turnkreis Schwaben fand sich im Einklang mit dem Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag, der den Lehrmeistern zur Pflicht gemacht hatte, die Lehrlinge mit allen gesetzlichen Mitteln von den sozialdemokratisch geführten Jugendvereinigungen fernzuhalten.
Ein kleiner Verein namens "Jugendsport in Feld und Wald" meldete sich am 20. Januar 1909 in Berlin zu Wort. Als Vereinsziel war "die praktische Erprobung der neuartigen pfadfinderischen Erziehungsmethoden des britischen Generals Robert Stephen Baden-Powell" angegeben. Zwei Berufsoffiziere, der Stabsarzt Alexander Lion und der in Karlsruhe gebürtige Hauptmann Maximilian Bayer, propagierten zusammen mit dem Generalkonsul Georg Baschwitz die Idee. Bayer und Lion hatten im Expeditionskorps in Deutsch-Südwestafrika gedient, General Baden-Powell in Südafrika. Seine Schrift "Scouting for Boys" übersetzten die beiden Deutschen als "Pfadfinderbuch" für eine interessierte Öffentlichkeit. Kategorisch lehnten dabei die Autoren jegliche Ausbildung der Jugend als "Soldatenspielerei" ab. Ja, Maximilian Bayer stellte die Arbeit für den Frieden gar als d i e große Pfadfinderaufgabe heraus.
Unteroffiziere, Offiziere und Oberlehrer bei den Pfadfindern
Die Reaktion kam prompt. "Pfadfinder – die Erziehung zum britischen Jagdhund", schrieb hämisch das "Berliner Tagblatt". Das alles sei "Erziehung zur Kolportage-Romantik, zur Räubersehnsucht, zur Wigwam- und Sklavenjagdmystik", hieß es höhnisch über den neugegründeten Verein. Infam brachten die Militärs in den Berliner Offizierkasinos die antisemitische Parole vom "Judensport in Wald und Feld" in Umlauf (Baschwitz war Jude, Lion zum Katholizismus konvertiert). Die Idee war dennoch nicht zu stoppen, zwei Jahre später gab es schon den Deutschen Pfadfinderbund. Aber die massiven Widerstände hatten Wirkung gezeigt: Das "Pfadfinderbuch" klang jetzt anpasserisch deutschtümelnd, benannte plötzlich Turnvater Jahn als Gründervater der ersten deutschen Pfadfinder. Und statt Arbeit für den Frieden die fatale Kehrtwendung zur einseitigen vormilitärischen Ausbildung. Das Ergebnis: Unteroffiziere, Offiziere und Oberlehrer stellten als Ziehväter den größten Teil der "Feldmeister".
Unterschiedlich reagierten die Kirchen auf das "Scouting". Der Weckruf fand lediglich in protestantischen Kreisen Gehör. Der Stuttgarter Bankbeamten Johannes Knehr erfuhr im Frühjahr 1908 von Plänen eines Sommerzeltlager in Hamburg. Als Vorsitzender der Jugendabteilung des Paulusvereins erkannte er den neuen pädagogischen Reiz, entwarf selbst Zelte und organisierte erstmals im Sommer 1910 Zeltfreizeiten an Wochenenden und den Ferien. Seine Jugendlichen waren begeistert und nahmen sich die englischen Pfadfinder zum Vorbild.
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Wallenstein
am 05.08.2014DIE Urkatastrophe Deutschlands. Erster und zweiter Weltkrieg waren dagegen Kinderfasching...