KONTEXT:Wochenzeitung
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Schuld und Bühne

Schuld und Bühne
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Ausgerechnet zum 50. Jahrestag des Kriegsbeginns im August 1914 strebte der erste deutsche Historikerstreit einem Höhepunkt entgegen. Wochenlang ging es – sich gegenseitig radikalisierend – in linken bis liberalen Medien auf der einen und in konservativen auf der anderen Seite um die Frage der deutschen Kriegsschuld. Teil XI unserer Serie "Der Weltkrieg im Südwesten".

"Christ und Welt", bis 1963 auflagenstärkste Wochenzeitung der Republik aus Stuttgart, mischte auf der publizistischen Bühne kräftig mit. Immer im Schulterschluss mit jenen, die wenig wissen wollten vom großen deutschen Interesse am Großen Krieg.

Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung unterhält ein "'Who's Who' verschiedenster politischer Akteure und Ideengeber der Christdemokratie". Unter G nicht fehlen darf Eugen Gerstenmaier, der sich, so heißt es, "als begabter Redner und scharfer Analytiker, von kleiner körperlicher Statur, aber agil und energisch auftretend, in programmatischen Diskussionen auf Bundesparteitagen vehement für die Berücksichtigung des 'C' eingesetzt" und "für 'eine Politik aus christlicher Gesinnung und Verantwortung' geworben" habe. Schön zu lesen, aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Denn der Bundestagspräsident, damals schon zehn Jahre im hohen Amt, konnte auch anders. Ganz anders und unchristlich, wie der hochemotionale Streit vor 50 Jahren belegt, in jenem schwierigen Jahr doppelten Gedenkens: 50 Jahre Erster und 25 Jahre Zweiter Weltkrieg.

Nicht nur, aber vor allem in "Christ und Welt" ging es gegen den Historiker Fritz Fischer, seit Kriegsende Extraordinarius an der Uni Hamburg. Der Oberpfälzer mit NSDAP-Vergangenheit forschte jahrelang in Archiven zu dem, was bis heute in vielen Sprachen Großer Krieg heißt, und wurde fündig. Er analysierte Dokumente, Briefe und Depeschen und befasste sich intensiv mit jenen vier verhängnisvollen Wochen zwischen dem Attentat in Sarajewo und der Kriegserklärung. Danach stand für Fischer "die deutsche Verantwortlichkeit" am Ausbruch des Krieges fest. Und er löste jene längst nach ihm benannte Kontroverse aus, die durch Christopher Clarks Besteller "Die Schlafwandler" neue Aktualität gewinnt.

Fischer schrieb die Geschichte der Kriegsmotive neu und räumte radikal auf mit der bis dahin gültigen herrschenden Lehre, wonach die europäischen Großmächte irgendwie alle gemeinsam verantwortlich gewesen und in die blutige Tragödie hineingeschlittert seien. Schon 1959 hatte er in einem Aufsatz in der "Historischen Zeitschrift" den Wunsch der Reichsregierung öffentlich gemacht, Deutschland als eine der führenden Nationen zu etablieren. Die Resonanz blieb auf Fachkreise beschränkt. Erst als zwei Jahre später sein 900-Seiten-Werk "Griff nach der Weltmacht" erschien, fegte der Historikerstreit hinaus aus den Denkerstuben, wurde erbittert geführt unter Professoren, aber vor allem in überregionalen Medien, und ebbte dennoch wieder ab. 

"Ende 1963 schien die Debatte ihren Zenit überschritten zu haben", schreibt Mark Rüdiger 2006 in seiner Magisterarbeit an der Uni Freiburg. Und weiter: "Einen kleinen Skandal in den Medien löste die Streichung von Geldern aus, die Fischer 1964 für eine Vortragsreise in die USA bekommen sollte." Weil die Regierung Ludwig Erhards hinter der Entscheidung vermutet wird. Erst als die Ford Foundation den Vortrag an der Yale University zahlte, konnte Fischer fahren. Und daheim wuchs sich der kleine zu einem großen Skandal aus.

Augstein muss "mal wieder das eigene Nest beschmutzen"

Im "Spiegel", von dessen redaktioneller Atmosphäre sich alle Interessierten seit der vor wenigen Monaten ausgestrahlten ARD-Produktion zur "Spiegel-Affäre" ein Bild machen können, formulierte Rudolf Augstein im März 1964 wie immer von Hand in Sütterlin einen seiner legendären Briefe an die Leserschaft: "Ich muss mal wieder das eigene Nest beschmutzen." Nachdem das Nachrichtenmagazin aus Hamburg schon seit geraumer Zeit massiv zur Verbreitung der Forschungsergebnisse Fischers beigetragen hatte, wurde Augstein noch einmal überdeutlich: "Ich halte es für eine patriotische, in den Volksschulen zu übende Pflicht, dass man sich in Deutschland vor Augen führt, wie verhängnisvoll die Deutschen in den letzten 50 Jahren aufgrund ihrer Selbstüberschätzung, ihres militärisch technischen Perfektionismus und ihres gestörten Verhältnisses zu ihren Nachbarn gewirkt haben." Wie Hitler erwogen habe, "die Tiroler auf der Krim anzusiedeln, so wollte im Ersten Weltkrieg Ludendorff auf der Krim alle Russlanddeutschen in einem eigenen Staat ('Krim-Taurien' oder 'Tatarische Republik' genannt) zusammenfassen, wie er überhaupt alle Über-Land- und Übersee-Deutschen in heimische Siedlungsräume, die durchaus anderen Völkerschaften gehörten, zurückrufen wollte". Der Erste Weltkrieg, "wie der Zweite, ist entstanden, weil das Bismarck-Reich das ihm von seinem Gründer angemessene Korsett sprengen und eine Weltstellung mit Gewalt erobern wollte".

Wem das neue – in der "Zeit", in der "Süddeutschen", sogar in Springers "Welt" verbreitete und ähnlich kämpferisch wie im "Spiegel" vom sozialdemokratischen "Vorwärts" vehement vertretene – Geschichtsbild nicht passte, fand in Stuttgart Trost und Heimstatt. "Christ und Welt" stellte sich gegen Fischer, Augstein und all die anderen. Und Eugen Gerstenmaier fragte auf der Titelseite: "Die Last des Vorwurfs. Zweimal deutsche Kriegsschuld?" Seine Antwort fiel eindeutig aus, die unbequemen Fakten wurden als Thesen hingestellt, er wetterte gegen eine angebliche "Geißelbruderschaft". Als "prekär" beurteilt Rüdiger die Doppelrolle: Gerstenmaier habe sich als Miteigentümer von "Christ und Welt" und gleichzeitig als Bundestagspräsident in die Kontroverse eingemischt.

Der in Kirchheim unter Teck geborene Schwabe, der seine Beteiligung am 20. Juli 1944 überlebt hatte, hielt allerdings nicht nur 30 Prozent. Er zählte 1948 zu den Mitgründern von "Christ und Welt". Die Redaktion saß in einer alten Flakbaracke in der Stuttgarter Richard-Wagner-Straße, direkt unter dem späteren Regierungssitz, der Villa Reitzenstein. Schon nach einem Jahr allerdings erwogen die Alliierten, das Blatt wieder zu verbieten – wegen der NS-Vergangenheit etlicher Autoren erschien es ihnen als "under cover nazi-paper". Die evangelischen Bischöfe streckten die Hand aus und boten ein neues Dach an. 1954 konnte sogar Giselher Wirsing Chefredakteur werden, ein Schriftsteller und Nazipropagandist aus Schweinfurt, der sich selber von Max Emanuel in Giselher umgetauft hatte. Er war bekannter Durchhalte-Leitartikler bis in die letzten Tage der Hitler-Herrschaft und schon wenige Monate nach Kriegsende Spitzel der Amis. Über 15 Jahre führte er das Blatt, das – mehrfach verkauft und fusioniert – bis heute als Beilage der "Zeit" besteht. "Die Beiträge verschreckten selten durch Enthüllungen, sie stifteten keine Unruhe, sondern boten eine publizistische Heimat", schreibt "Christ und Welt" 2012 über die Ära in einer Serie, die sich ausdrücklich auch mit der braunen Vergangenheit befasst. Die Bundesrepublik sei für den Leser erläutert worden, "als gelte es, sich in einer fremden Welt zurechtzufinden".

Natürlich zog Wirsing gegen Fischer und Augstein zu Felde. Ungewöhnlich aus heutiger Sicht, dass sich der Kombattanten gegenseitig mit Leserbriefen bedachten, selbst Augstein schrieb an die damals berühmte Adresse von "Christ und Welt": Postfach 115. Wirsing nannte ihn einen "Hysteriker", der "mit der historischen Forschung nicht weiter vertraut" sei, einen "Nationalmasochisten", der über längst abgeklärte Vorgänge mit einer prozessualen Geschichtsschreibung aufwarte, einen "Posaunenbläser", der "nur zweckhafte Streitschriften zu verfertigen gedenkt", der "die Quellen nicht kennt und aufgrund eines einzigen Buches apodiktische Urteile fasst". Und Augstein seinerseits wendet sich im Juni 1964 wieder einmal an den lieben "Spiegel"-Leser: "Anders als die Leute von 'Christ und Welt' glauben wir nicht und halten wir nicht für empfehlenswert zu glauben, dass ein 'Gewebe von Bündnissen und Verständigungen'" 1914 "schließlich zu einer Selbstauslösung" geführt habe. Oder: "Ich werfe Wirsing nicht vor, wie andere getan haben, dass er Nazi war, sondern dass er seine Leser in 'Christ und Welt' heute noch glauben machen will, der Nationalsozialismus sei teils vom Himmel gefallen, teils von den bösen Vätern des Schandvertrages von Versailles (...) gestiftet worden."

Erst Auschwitz und jetzt auch noch Schuld am Ersten Weltkrieg

Für Generationen von Zeitgeschichtlern, die den erbitterten Streit retrospektiv betrachteten, trifft dies des Pudels Kern. Fischer selber hatte mit seinem Wälzer auch einen "Beitrag zu dem Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg" leisten wollen. Augstein notierte: "Da die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg nicht wohl bestritten werden kann, wäre es höchst praktisch, Deutschland wenigstens für den Ersten Weltkrieg einen Freispruch zweiter Klasse einzuhandeln, in einer Reihe mit den anderen vier europäischen Großmächten, 'wegen entschuldbaren Verbotsirrtums' gewissermaßen." Der frühere Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Konrad H. Jarausch, urteilt 40 Jahre später kaum anders: "Fischers Thesen waren ein Schock. In Jerusalem stand Adolf Eichmann vor Gericht, in Frankfurt begannen die Auschwitz-Prozesse. Allen Deutschen wurde vor Augen geführt, welche schrecklichen Dinge im Dritten Reich passiert waren. Und nun sollten sie auch noch schuld am Ersten Weltkrieg sein."

Im Herbst 1964 wurde der Streit entschieden, jedenfalls unter den Fachleuten. Auf dem 26. Deutschen Historikertag, erstmals nach Kriegsende wieder in Berlin, behalten Fischers Anhänger in fünfstündiger Redeschlacht die Oberhand. Sogar der Breslauer Fritz Stern, 1938 mit seiner Familie vor den Nazis geflohen, kehrte für einen Vortrag nach Deutschland zurück: "Die wichtigste Frage, die Fischer anschneidet, zum Teil auch nur andeutet, ist die Frage nach der Kontinuität (...). Gibt es überhaupt so etwas wie eine Folge von Betriebsunfällen, ohne dass man auf den Gedanken kommt, dass in dem Betrieb etwas nicht stimmt? Ist die Kontinuität von Absichten und Hoffnungen, von Stil und Zielen, nicht geradezu verblüffend?"

Der Abstieg der Fischer-Feinde war da schon nicht mehr aufzuhalten. Der eine, Wirsing, Träger des Deutschen Journalisten-Preis für seine Berichterstattung vom ersten Auschwitz-Prozess, unterliegt in redaktionsinternen Machtkämpfen, rennt Ende der Sechziger an gegen die Umwandlung der Villa Marlier, die 1942 die Wannseekonferenz beherbergte, in eine Gedenkstätte, weil es falsch sei, "den Weg der Deutschen in die Zukunft mit weiteren düsteren Kultstätten zu versehen", sucht nach einem neuen Namen für das Blatt, dessen Bedeutung immer weiter abnimmt, verstrickt sich in juristische Händel, als immer öfter aus seinen Nazipublikationen zitiert wird. Er stirbt 1975 in Stuttgart.

281 000  DM als symbolische Wiedergutmachung

Über den anderen, Gerstenmaier, schreibt die Konrad-Adenauer-Stiftung: "Ins Visier der Stasi gerät der bekennende Antikommunist, weil er an Berlin als Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschlands festhält und Sitzungen des Deutschen Bundestages und der Bundesversammlung dorthin einberuft." Als 1965 die 7. Novelle des Wiedergutmachungsgesetzes für Angehörige des öffentlichen Dienstes deren Entschädigungszahlungen regelt, ist der Backnager Bundestagsabgeordnete "einer der Hauptnutznießer und erhält 281 000 DM für die entgangene wissenschaftliche Karriere", wie es im Lebenslauf weiter heißt. Dass es ihm "um eine symbolische Wiedergutmachung geht und er die Entschädigungssumme spendet, kann die Stimmung nicht beruhigen". Eine Woche vor seinem Abgang im Januar 1969 urteilte "Die Zeit", er habe viele Feinde, "sein schlimmster ist er selber": Gerstenmaier lasse sich "an Eigensinn und Rechthaberei so schnell nicht übertreffen – ein Elefant im politischen Porzellanladen, sagen seine Gegner, wer mehr Verständnis für ihn hat, drückt es anders aus: ein kleiner Napoleon ohne geeignetes Schlachtfeld". Fritz Fischer wird 91 Jahre alt. Als Sechsjähriger hat er die Juli-Krise von 1914 miterlebt und mit 90 Gerhard Schröders Wahl zum Bundeskanzler. In seinem Todesjahr 1999 adelt ihn die in Großbritannien erschienene "Encyclopedia of Historians and Historical Writing", obwohl so manches Detail seiner Forschung widerlegt ist, als den wichtigsten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts.

PS: 13 Jahre nach dem Doppelgedenken an den Ersten und den Zweiten Weltkrieg kommt die Sprache wieder auf den Berliner Historikertag von 1964. In einem Wiener Vorort findet über vier Wochen hinweg ein internationales Jungjournalisten-Seminar statt. Aus Stuttgart dabei: der damalige Chefredakteur der "Stuttgarter Nachrichten", Rudolph Bernhard, der am Beispiel der Redeschlacht in der Freien Universität eindringlich die journalistische Bedeutung von Haltung und Einstellung erläutert. Sein Credo: Nicht bloß dabei sein und dann schreiben aus kühler Distanz, sondern Sachverhalte – je komplexer, desto intensiver – mit Leidenschaft durchdringen, weil nur breites Wissen größtmögliche Objektivität ermöglicht. Es sei dahingestellt, ob dies dem Sohn des Zeitungsgründers und Konsuls Henry Bernhard selber ausreichend oft gelang. Aber die Botschaft saß. Und sitzt bis heute.


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2 Kommentare verfügbar

  • Kontext:Redaktion
    am 25.06.2014
    Antworten
    Hallo Herr Heine,

    haben Sie wirklich aufmerksam gelesen?
    Es geht aus dem Text doch eindeutig hervor, dass es sich um den damaligen Historiker-Streit und den Kongress in Berlin handelt. Alles andere steht im letzten Absatz:

    In seinem Todesjahr 1999 adelt ihn die in Großbritannien erschienene…
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