Wem das neue – in der "Zeit", in der "Süddeutschen", sogar in Springers "Welt" verbreitete und ähnlich kämpferisch wie im "Spiegel" vom sozialdemokratischen "Vorwärts" vehement vertretene – Geschichtsbild nicht passte, fand in Stuttgart Trost und Heimstatt. "Christ und Welt" stellte sich gegen Fischer, Augstein und all die anderen. Und Eugen Gerstenmaier fragte auf der Titelseite: "Die Last des Vorwurfs. Zweimal deutsche Kriegsschuld?" Seine Antwort fiel eindeutig aus, die unbequemen Fakten wurden als Thesen hingestellt, er wetterte gegen eine angebliche "Geißelbruderschaft". Als "prekär" beurteilt Rüdiger die Doppelrolle: Gerstenmaier habe sich als Miteigentümer von "Christ und Welt" und gleichzeitig als Bundestagspräsident in die Kontroverse eingemischt.
Der in Kirchheim unter Teck geborene Schwabe, der seine Beteiligung am 20. Juli 1944 überlebt hatte, hielt allerdings nicht nur 30 Prozent. Er zählte 1948 zu den Mitgründern von "Christ und Welt". Die Redaktion saß in einer alten Flakbaracke in der Stuttgarter Richard-Wagner-Straße, direkt unter dem späteren Regierungssitz, der Villa Reitzenstein. Schon nach einem Jahr allerdings erwogen die Alliierten, das Blatt wieder zu verbieten – wegen der NS-Vergangenheit etlicher Autoren erschien es ihnen als "under cover nazi-paper". Die evangelischen Bischöfe streckten die Hand aus und boten ein neues Dach an. 1954 konnte sogar Giselher Wirsing Chefredakteur werden, ein Schriftsteller und Nazipropagandist aus Schweinfurt, der sich selber von Max Emanuel in Giselher umgetauft hatte. Er war bekannter Durchhalte-Leitartikler bis in die letzten Tage der Hitler-Herrschaft und schon wenige Monate nach Kriegsende Spitzel der Amis. Über 15 Jahre führte er das Blatt, das – mehrfach verkauft und fusioniert – bis heute als Beilage der "Zeit" besteht. "Die Beiträge verschreckten selten durch Enthüllungen, sie stifteten keine Unruhe, sondern boten eine publizistische Heimat", schreibt "Christ und Welt" 2012 über die Ära in einer Serie, die sich ausdrücklich auch mit der braunen Vergangenheit befasst. Die Bundesrepublik sei für den Leser erläutert worden, "als gelte es, sich in einer fremden Welt zurechtzufinden".
Natürlich zog Wirsing gegen Fischer und Augstein zu Felde. Ungewöhnlich aus heutiger Sicht, dass sich der Kombattanten gegenseitig mit Leserbriefen bedachten, selbst Augstein schrieb an die damals berühmte Adresse von "Christ und Welt": Postfach 115. Wirsing nannte ihn einen "Hysteriker", der "mit der historischen Forschung nicht weiter vertraut" sei, einen "Nationalmasochisten", der über längst abgeklärte Vorgänge mit einer prozessualen Geschichtsschreibung aufwarte, einen "Posaunenbläser", der "nur zweckhafte Streitschriften zu verfertigen gedenkt", der "die Quellen nicht kennt und aufgrund eines einzigen Buches apodiktische Urteile fasst". Und Augstein seinerseits wendet sich im Juni 1964 wieder einmal an den lieben "Spiegel"-Leser: "Anders als die Leute von 'Christ und Welt' glauben wir nicht und halten wir nicht für empfehlenswert zu glauben, dass ein 'Gewebe von Bündnissen und Verständigungen'" 1914 "schließlich zu einer Selbstauslösung" geführt habe. Oder: "Ich werfe Wirsing nicht vor, wie andere getan haben, dass er Nazi war, sondern dass er seine Leser in 'Christ und Welt' heute noch glauben machen will, der Nationalsozialismus sei teils vom Himmel gefallen, teils von den bösen Vätern des Schandvertrages von Versailles (...) gestiftet worden."
Erst Auschwitz und jetzt auch noch Schuld am Ersten Weltkrieg
Für Generationen von Zeitgeschichtlern, die den erbitterten Streit retrospektiv betrachteten, trifft dies des Pudels Kern. Fischer selber hatte mit seinem Wälzer auch einen "Beitrag zu dem Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg" leisten wollen. Augstein notierte: "Da die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg nicht wohl bestritten werden kann, wäre es höchst praktisch, Deutschland wenigstens für den Ersten Weltkrieg einen Freispruch zweiter Klasse einzuhandeln, in einer Reihe mit den anderen vier europäischen Großmächten, 'wegen entschuldbaren Verbotsirrtums' gewissermaßen." Der frühere Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Konrad H. Jarausch, urteilt 40 Jahre später kaum anders: "Fischers Thesen waren ein Schock. In Jerusalem stand Adolf Eichmann vor Gericht, in Frankfurt begannen die Auschwitz-Prozesse. Allen Deutschen wurde vor Augen geführt, welche schrecklichen Dinge im Dritten Reich passiert waren. Und nun sollten sie auch noch schuld am Ersten Weltkrieg sein."
2 Kommentare verfügbar
Kontext:Redaktion
am 25.06.2014haben Sie wirklich aufmerksam gelesen?
Es geht aus dem Text doch eindeutig hervor, dass es sich um den damaligen Historiker-Streit und den Kongress in Berlin handelt. Alles andere steht im letzten Absatz:
In seinem Todesjahr 1999 adelt ihn die in Großbritannien erschienene…