Unerreichbare Ziele und verlogene Vereinbarungen legen die Fährte in die Apokalypse. Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen hat fast zehn Jahre an dem nach ihm benannten Plan ("Angriffskrieg gegen Frankreich") gearbeitet, zuerst erfolgreich an der West- und dann an der Ostfront zu kämpfen. Die deutschen Truppen sollten in Belgien rasch vorrücken, um die Franzosen zu treffen, ehe die sich im Norden organisieren können. Schlieffens mehrfach überarbeitete Denkschriften gipfeln noch vor 1914 in dem später von vielen Historikern aufgegriffenen Eingeständnis, dass die eigene Armee für diese Strategie eigentlich gar nicht stark genug sei. Seit der ersten Haager Friedenskonferenz 1899 sind zudem umfangreiche und immer wieder überarbeitete Verträge formuliert, denen alle Beteiligten beitreten und die unter anderem festlegen, dass einer Zivilbevölkerung, die im Falle einer Invasion spontan zu den Waffen greift, der Kombattantenstatus einzuräumen ist.
Aufzeichnungen über das Württembergische Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 120 zeigen die Folgen der Erfolgsfantasien der Militärs. Die Männer, vorgesehen lediglich als "mobile Festungsbesatzung", waren entsprechend schlecht ausgerüstet. Es gab keine Feldküchen, keine Schanzzeugwagen, keine Nachrichtenmittel, keine Entfernungsmesser, keine Maschinengewehre und keine Tragetierkolonnen. Nur einige wenige, landesüblich bespannte Fahrzeuge standen zur Verfügung. Derart schlecht vorbereitet und mit unerfüllbaren Vorgaben marschierten die Deutschen "zur Abwehr der französischen Bedrohung" in Belgien ein, um dort auf gänzlich unerwarteten Widerstand zu stoßen. Die Forts, die die Führung mehr oder weniger kampflos in die Hand zu bekommen gedachte, waren schwer einnehmbar. Einen Tag nach dem Überfall formierte sich nach einem Aufruf der belgischen Regierung zudem eine Bürgergarde, die noch schlechter ausgebildet und nur mit einer Armbinde gekennzeichnet war. 100 000 Mann meldeten sich in kurzer Zeit.
An der Westfront verbreiten sich – von der Obersten Heeresleitung befördert – rasch Gerüchte über marodierende belgische Freischärler, nach den organisierten Widerstandsgruppen der Kriegsjahre 1870/71 Franktireurs genannt. "Man könnte von einer regelrechten Psychose sprechen, die sich unter den deutschen Truppen ausbreitete", urteilt der irische Historiker Alan Kramer. Kaiser Wilhelm höchstselbst ereiferte sich über Belgier, die sich "geradezu teuflisch, um nicht zu sagen viehisch benommen" hätten. Die Propaganda berichtete von abgeschnittenen Ohren und Genitalien, erfindet ein elfjähriges Mädchen, das einem schlafenden Soldaten mit Stricknadeln beide Augen ausgestochen haben soll.
Die Blutspur der Augusttage 1914 zieht sich durch Städte und Dörfer, von Soumagne mit 118 Toten schon am 5. August nach St. Pancré. Mitglieder des Infanterieregiments "Alt-Württemberg" und des Infanterieregiments 125 marschieren am Abend des 22. August durch den Flecken im französisch-belgischen Grenzgebiet. "An den Haustüren standen Frauen, die den Soldaten Wasser anbieten, das trotz des Verbots gierig getrunken wurde", schreibt Kramer. Danach kommt es zur tödlichen Verkettung. Deutsche Soldaten meinen, Franktireurs hätten ihre Feldküchen für Maschinengewehr-Kompanien gehalten und das Feuer eröffnet. Dafür rächen sich die Invasoren an den Dorfbewohnern. In einer Zwischenbilanz der ersten vier Wochen kommt St. Pancré dennoch nicht vor – weil die Zahl der Opfer unter hundert geblieben war. Die Exekutionen im vorübergehend französisch besetzen Dinant sind dagegen detailliert erfasst: Von 92 getöteten Frauen waren 18 älter als 60 Jahre und 16 unter 15 Jahre alt; von den 577 Männern waren 76 älter als 60 und 22 jünger als 15 Jahre; das älteste Opfer war 88 Jahre, 14 Kinder keine fünf Jahre alt. Umgebracht wurde auch ein Neugeborenes.
"25. 8. früh, Dinant ist gefallen", schreibt ein Soldat an seine Eltern in Dresden, "(...) wir dringen immer weiter vor. Die Männer werden erschossen, die Häuser geplündert und niedergebrannt (...) Ängstigt Euch ja nur nicht." Im Handstreich, weiß Kramer, sollte der rund 7000 Einwohner zählende Ort erobert werden. Die sächsischen Truppen waren aber nach tagelangen Märschen "am Rande der physischen und psychischen Erschöpfung" und sie wussten, dass sie in Dinant auf reguläre französische Einheiten treffen würden. Nur in einem einzigen Fall, dem der Zerstörung von Leuven/Löwen, gehen die Deutschen nach 1918 der Verantwortung tatsächlich auf den Grund.
Zwischen dem 25. und dem 28. August werden in der bereits eroberten Stadt, rund 120 Kilometer westlich von Aachen, 248 Einwohner massakriert, darunter zwanzig Frauen und elf Kinder. Es wird geplündert und gebrandschatzt. Nicht nur mehr als tausend Häuser, sondern auch die berühmte Universitätsbibliothek mit fast 2000 mittelalterlichen Handschriften und Drucken und 300 000 Büchern wird ein Raub der Flammen. Die Belgier untersuchen die Vorgänge umgehend. 1915 wird unter anderem festgehalten, dass deutsche Soldaten direkt vor Ort gar nicht von Freischärler-Angriffen berichten, sondern diese erst später nachgeschoben wurden. In der Dämmerung fehlinterpretierte rote und grüne Leuchtkugeln sollen die Katastrophe ausgelöst haben. Später gehen auch deutsche Untersuchungen von der Unschuld der Belgier aus, sogar davon, dass eigene Verbände aufeinandergestoßen sein könnten. Erst im August 2000, unter der rot-grünen Bundesregierung, wird sich Deutschland offiziell entschuldigen mit den Worten von Verteidigungsstaatssekretär Walter Kolbow (SPD): "Ich möchte Sie alle bitten, das von Deutschen in Ihrem Lande damals begangene Unrecht zu vergeben."
In den letzten Augusttagen 1914 waren gerade die Württemberger in Rückzugsgefechte verwickelt. Es kommt zu Panik und Angst und wiederholten Verstößen gegen das strikte Alkoholverbot. Der Kommandeur des Infanterieregiments 125, Christof von Ebbinghaus, berichtet von einer beginnenden Meuterei während eines Gefechts an der französischen Grenze und davon, dass er "Württemberger und Preußen" mit Erschießung bedrohte, wenn sie nicht weiter vorwärts marschierten. Nur die Württemberger hätten gehorcht, und einer ihrer Gefreiten habe gemeldet, die Preußen wollten zurückschießen. Erst das Hornsignal beendete den Aufruhr, die Männer marschierten weiter, viele von ihnen in den Tod. In Berlin, aber auch im württembergischen Kriegsministerium in der Olgastraße 13 machte sich die Erkenntnis breit, dass der Schlieffen-Plan gescheitert ist. Natürlich wird nach den Schuldigen gesucht. Aus erst nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt gewordenen Dokumenten geht hervor, dass auch Kaiser Wilhelm in der Kritik stand, weil er einer Fehlinformationen aufgesessen war und den Aufmarsch deshalb um Stunden verzögert hatte. Helmuth von Moltke, der Chef des Großen Generalstabs, erleidet einen Nervenzusammenbruch und wird am 14. September abberufen.
Berühmte Württemberger – und nicht nur sie – hatten sich im Frühherbst 1914 schon auf die andere Seite geschlagen, auf jene der Kriegshetzer. Ausgerechnet der Stuttgarter Kosmopolit und Weltbürger Karl Vollmoeller, ein weitgereister Archäologe, Dramatiker und Filmpionier, der Autorennen fuhr, Flugzeuge konstruierte und vor allem Klassiker wie Zeitgenossen aus mehreren Sprachen übersetzte, ist besonders aktiver Mitinitiator des "Manifests der 93". Angesicht der heftigen internationalen Reaktion auf die Kriegsgräuel der Augustwochen, vor allem auf die Zerstörung von Leuven, sehen sich Intellektuelle veranlasst, einen Gegenaufruf zu verfassen: "Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten."
In der Zwischenkriegszeit wird Vollmoeller von Zeitzeugen als Mittler zwischen den Kulturen gerühmt. 1914 unterschreibt er – trotz erster Erfahrungen als württembergischer Kriegsberichterstatter – Sätze wie: "Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht entwinden (...) Glaubt uns! Glaubt, dass wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle."
Viele klingende Namen reihten sich ein: Paul Ehrlich, Max Planck, Wilhelm Röntgen und Richard Willstätter, Gerhart Hauptmann, Max Liebermann, Max Reinhardt, Hans Thoma, Friedrich Naumann, Engelbert Humperdinck und Siegfried Wagner. Aus dem Manifest erwächst nicht nur die noch schärfer formulierte Erklärung der Hochschullehrer, die 3000(!) Professoren und Dozenten unterzeichnen, sondern auch die Deutsche Gesellschaft 1914. Und mit der ist ein auf der ganzen Welt bekannter und in der Heimat verehrter Schwabe eng verbunden: Robert Bosch, als Geldgeber, wenn nicht sogar als bedeutendster Mäzen. Bei der Eröffnungsrede des Klubs in einem von ihm erworbenen Berliner Gründerzeitpalais schlägt der erste Vorsitzende Kolonialstaatssekretär Wilhelm Solf ganz andere Töne an: Er spricht vom August 1914 mit seinem "wahrhaft erhebenden seelischen Schwunge", von der "Begeisterung"" und der "Einstimmigkeit" und der "bis zum Höchsten und Letzten entschlossene Opferbereitschaft, wie sie schöner und hingebungsvoller die Geschichte nicht kennt". Und davon, dass dieser Geist von 1914 erhalten werden müsse, "damit das Volk beseelt bleibt von dem festen Willen, das Vaterland zu verteidigen".
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FernDerHeimat
am 23.07.2014