KONTEXT:Wochenzeitung
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Talfahrt auf dem eigenen Schlitten

Talfahrt auf dem eigenen Schlitten
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Die Tageszeitungen rutschen immer tiefer in den Keller. Vorne dabei ist das Stuttgarter Pressehaus. Ist daran wirklich das Internet schuld? Zeitungsforscher halten andere Faktoren für wichtiger – nicht zuletzt Fehler oder Versäumnisse der Blattmacher und Verlagsmanager selbst.

Viermal im Jahr müssen sich Manager und Chefredakteure in deutschen Verlagen einer Art chinesischer Wasserfolter unterziehen: Jeweils quartalsweise veröffentlicht die Informationsgesellschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) aktuelle Zahlen zur Auflagenentwicklung von Zeitungen und Zeitschriften – und die sind mit beängstigender Zuverlässigkeit mies.

Am 18. Juli war es wieder soweit: Die <link http: meedia.de zeitungs-ivw-alle-regionalen-verlieren-abendzeitung-gleich-32 _blank>IVW-Statistik offenbarte, dass die Regionalzeitungen der Funke-Mediengruppe in Nordrhein-Westfalen binnen eines Jahres gut sieben Prozent ihrer Käufer verloren haben. Bei der "Abendzeitung" in München, gerade mit knapper Not dem Untergang entronnen, betrug der Verlust sogar 32 Prozent. Zu den wenigen Titeln mit einem Plus gehört der "Südkurier", der um 0,2 Prozent zulegte. In die schwarzen Zahlen schaffte es die Regionalzeitung aus Konstanz aber nur mithilfe stark rabattierter Exemplare, sogenannter sonstiger Verkäufe. Insgesamt haben die deutschen Tageszeitungen zwischen April und Juni 2014 im Vergleich zum Vorjahr vier Prozent ihrer Auflage verloren. Der stete Tropfen höhlt den Stein.

Die SWMH-Strategie 2020: Wo sind die Konzepte?

Zu den Verlierern zählt regelmäßig die Südwestdeutsche Medienholding (SWMH), einer der größten Medienkonzerne der Republik. Dort erscheinen unter anderem die "Süddeutsche Zeitung", die "Stuttgarter Zeitung" und die "Stuttgarter Nachrichten". Vor allem die beiden Letztgenannten verzeichnen die stärksten Verluste in Baden-Württemberg. Da wäre es geboten, dass die Marke noch eine Weile strahlt und entsprechend poliert wird. Eine selbstverständliche Einsicht ist das nicht: Der schwäbisch-pfälzische Medienkonzern hat gerade ein Strategiepapier "SWMH 2020" verfasst, in dem von allerhand "Projektaufträgen" à la "Identifikation neuer Geschäftsfelder" oder "Möglichkeiten der anknüpfenden Monetarisierung redaktioneller Themenfelder" die Rede ist. Man sucht hingegen vergeblich Aussagen darüber, mit welchen Konzepten und Inhalten die SWMH ihre Blätter weiter entwickeln will.

Für Internet-Aktivisten ist der Niedergang gedruckter Zeitungen und Zeitschriften das Spiegelbild zum Siegeszug digitaler Medien. Auch viele Verantwortliche in den Verlagen selbst erklären und entschuldigen die Auflagenverluste ihrer Titel damit, dass die Leser ins Internet abwandern, wo rund um die Uhr ein zumeist kostenloses, umfangreiches Nachrichtenangebot lockt.

Doch hinter diese populäre These setzen Zeitungsforscher ein dickes Fragezeichen. Professor Andreas Vogel, Leiter des Wissenschaftlichen Instituts für Presseforschung und Medienberatung in Köln, hat im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung die Ursachen der "Talfahrt der Tagespresse" untersucht. Sein Ergebnis: Die zunehmende Konkurrenz durch Online-Medien spiele nur eine kleine Rolle beim Niedergang der Tageszeitungen. Vogel nennt ein Indiz für seine These: Der Auflagenschwund begann schon, als es das Internet noch gar nicht gab beziehungsweise es sich noch nicht etabliert hatte. Die deutsche Tagespresse erreichte ihre höchsten Auflagen zu Beginn der 1980er-Jahre, seitdem geht es kontinuierlich bergab.

Wenn das Netz nicht der Hauptschuldige an der Print-Misere ist, was sind dann die Ursachen? Vogel meint, die beiden wichtigsten seien fehlende Kaufkraft eines erheblichen Teils der Bevölkerung und "mangelnde Produktdifferenzierung": Adressat der klassischen Tageszeitung sei weiterhin die "bürgerliche Mitte" der Gesellschaft, deren Bedeutung aber stetig abnehme; Migranten, Singles in großen Städten oder ärmere Menschen könnten mit solchen Blättern nichts anfangen. Anders formuliert: Viele Blattmacher und Journalisten, die ständig über gesellschaftliche Trends berichten, haben völlig ignoriert, dass diese Trends auch ihre eigene Arbeit betreffen.

Die Jüngeren lassen Regionalzeitungen links liegen

Dass die "Talfahrt der Tageszeitungen" nicht vorrangig auf das Internet zurückzuführen ist, ist keineswegs die Minderheitsmeinung eines einzelnen Print-Nostalgikers. Michael Haller, emeritierter Professor für Journalismusforschung an der Universität Leipzig, predigt das schon seit Jahren. In seiner Streitschrift "Brauchen wir Zeitungen?" hat er seine Thesen noch einmal zusammengefasst und eine Reihe von Vorschlägen gemacht, wie speziell die Regionalzeitungen zu retten seien. Haller nennt eine ganze Reihe von Versäumnissen und Fehlern. Zum Beispiel diese: Die Mehrheit der Jüngeren halte Regionalzeitungen zwar für glaubwürdig, lasse sie aber links liegen, weil ihr Inhalt mit ihrer Lebenswelt nichts mehr zu tun habe: "Viele junge Leute zeigen Respekt vor der Printzeitung wie vor einer Autoritätsperson, die man kennt, der man aber wen möglich aus dem Wege geht", meint Haller. 

Der Medienforscher polemisiert auch gegen Chefredakteure, die fragwürdigen Moden folgen oder etwa durch "eigensinnige Blattideen" wie "ganzseitige Firmenporträts in der Art eines PR-Prospekts" die grundlegende Aufgabe einer Regionalzeitung ignorieren, nämlich möglichst alle relevanten Ereignisse tagesaktuell zu vermitteln und Orientierung zu bieten. Ein Beispiel dafür ist die Seite eins der "Leipziger Volkszeitung" vom 8. November 2013: Das Aufmacherbild zeigte die Motorhaube eines Maserati, flankiert von zwei jungen Frauen und garniert mit der Information, dass man dieses Auto nun auch in Leipzig kaufen könne – in einer Stadt mit einem Durchschnittseinkommen von 2250 Euro brutto pro Monat.

Haller belegt seine Behauptung von der hausgemachten Krise der Regionalzeitungen mit dem Verweis auf "Top-" und "Flop-Zeitungen", deren Auflagenentwicklung sich diametral unterscheidet, obwohl sich ihre Erscheinungsgebiete im Hinblick auf Bevölkerungsentwicklung, Migrantenanteil oder Altersstruktur gleichen. In Baden-Württemberg zum Beispiel steht die "Schwäbische Zeitung" deutlich besser da als der "Schwarzwälder Bote", was sich durch Besonderheiten des jeweiligen Reviers nicht erklären lässt.

Den meisten Verlagen ist nichts anderes eingefallen als Sparen

Zuspruch für Vogels und Hallers Thesen zur Rolle des Internets kommt auch von Praktikern: Joachim Widmann war Chefredakteur der Nachrichtenagentur dapd und des "Fränkischen Tags" in Bamberg, heute leitet er die Berliner Journalisten-Schule. Obwohl die Leserforschung bereits in den 1980er-Jahren ergeben habe, dass das sinkende Publikumsinteresse auch "an der Abstraktion, am Textduktus und an der Aufmachung der gängigen journalistischen Produkte" liege, hätten die Verlage von "optischen Retuschen" abgesehen wenig bis nichts verändert, kritisiert er: "Im Gegenteil haben die meisten Verlage durch Sparen an Redaktionen und Rationalisierungen die Rendite stabilisiert und den Status quo zementiert." Doch diese Rechnung geht laut Widmann nicht mehr auf, weil Leser und Anzeigenkunden im Netz Alternativen zu den ausgedünnten Blättern finden. Seine Schlussfolgerung: Das Internet sei tatsächlich nicht Ursache der Krise der Tageszeitungen – aber es verstärkte sie in stetig zunehmendem Maße.

Lässt sich die Tageszeitung also retten, wenn Journalisten und Verlagsmanager einfach nur ihren Job vernünftig machen? Das wäre zu kurz gesprungen, weil es einen für ihr Überleben wichtigen Faktor gibt, den Vogel und Haller nur am Rande behandeln: das Anzeigengeschäft. Derzeit wenden sich nicht nur die Leser, sondern auch Werbekunden und Inserenten von den Zeitungen ab ­– und das hat sehr wohl mit dem Internet zu tun. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal des Stellenmarkts der FAZ. Einst verdiente die Zeitung damit 200 Millionen Euro, heute ist es nur noch ein Zehntel davon. Dieses Geschäft machen jetzt vor allem Online-Jobbörsen.

Die beiden Zeitungsforscher Vogel und Haller haben zudem ganz verschiedene Vorstelllungen davon, was genau zu tun ist, um die Zeitung überlebensfähig zu machen. Vogel sieht in einer "Produktdifferenzierung" ihre "letzte Chance". Wenn die "Zeitung für alle" nicht mehr oder immer schlechter funktioniert, müssten die Verlage eben verschiedene Varianten anbieten, damit für möglichst viele Menschen etwas dabei ist. Er schlägt daher vor, neben der klassischen Ausgabe billigere Versionen auf den Markt zu bringen, die dünner sind: Wer keinen Lokalsport will, bestellt ihn einfach ab. Der Zeitungsforscher denkt auch laut darüber nach, warum es eigentlich keine speziellen Wochenendausgaben für Singles einerseits und Familien andererseits gibt.

Ganz anders Haller: Er will die Tageszeitung als "nachrichtliches Informationsmedium mit Universalanspruch" erhalten und erneuern und postuliert, dass ihre "Kernzielgruppe", gebildete Berufstätige zwischen 30 und 55 Jahren, genau das weiterhin erwartet. Vogel fehle es hingegen an "empirischem Wissen über Mediennutzung" und sein Plädoyer für "Differenzierung" stütze sich auf "Ansichten aus den 70er- und 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts", ätzt Haller.

Es ist allerdings ohnehin unwahrscheinlich, dass die Verlage genau den Weg beschreiten, den Vogel ihnen vorschlägt, und neben unterschiedlichen Lokalausgaben weitere Varianten eines Titels anbieten. Der logistische Aufwand wäre hoch, die Verlage müssten in Personal investieren, um ihr redaktionelles Angebot aufzufächern – und am Ende stünden sie vielleicht dennoch schlechter da als zuvor. Was tun, wenn plötzlich größere Gruppen von Abonnenten den Lokalsport, die Kultur oder den Wirtschaftsteil abbestellen?

Wie mache ich eine Zeitung für 17- und 70-Jährige?

"Produktdifferenzierung" mit einer anderen Stoßrichtung ist aber sehr wohl ein Thema in der Zeitungsbranche, und seine Bedeutung wächst stetig: Zeitungsverlage versuchen, Menschen mit speziellen Interessen oder in bestimmten Lebenslagen mit neuen Produkten zusätzlich zur herkömmlichen Zeitung als Leser zu gewinnen. Das können Print- oder Online-Medien sein. Häufig werden sie allerdings nicht mit dem bei Tageszeitungen üblichen redaktionellen Aufwand und nach den dort geltenden Qualitätsmaßstäben produziert.

Ein Haus, das eine solche Differenzierungsstrategie seit Längerem verfolgt, ist die "Saarbrücker Zeitung". Ihr Chefredakteur Peter-Stefan Herbst postulierte schon vor Jahren, es werde immer schwerer, eine Zeitung zu machen, die einen 17-Jährigen und eine 70-Jährige gleichermaßen anspricht. Die "Saarbrücker Zeitung" hat heute unter anderem eine Website für Jüngere ("sol.de") und eine für Feinschmecker ("finerio.de") im Angebot, sie gibt eine wöchentlich erscheinende Sportzeitung ("Saar.amateur") und ein "Familien Magazin" heraus. Zwischen 2005 und 2009 leisteten sich Herbst & Co. sogar eine tägliche Boulevardzeitung für junge Leute namens "20 Cent". Sie scheiterte jedoch am Mangel an Anzeigenkunden.

Bei der "Rheinischen Post" (RP), die zum gleichen Konzern wie die "Saarbrücker Zeitung" gehört, bastelt der junge Chefredakteur Michael Bröcker an einer ganzen Handvoll neuer Produkte: Dazu zählen ein Campus-Magazin, ein Weinportal, Schülermagazine und ein regionales Wirtschaftsblatt. Premiere hatte am 2. Mai bereits "RP+", eine Zeitung für jüngere Leser in der Stadt Düsseldorf. Sie soll an Brückentagen erscheinen, an denen die "RP" selbst nicht herauskommt.

Aus einer Tageszeitung mehr zu machen setzt aber voraus, dass sie noch eine Zeit lang existiert. Joachim Widmann sagt es so: "Um sich im Netz vom Kostenlos-Mainstream abzuheben und auf jeder Plattform mehr Zahlungsbereitschaft zu wecken, braucht es einen kompetenten und auch streitbaren, auf viele exklusive Aspekte zu aktuellen Themen bedachten Journalismus."


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19 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Frank
    am 26.08.2014
    Antworten
    Es ist doch in der Tat auch so daß viele Redakteure bzw. Redakteurinnen an den Entwicklungen die ihre Zeitungen und ihre Arbeitsplätze betreffen - darunter der erwähnte Kaufkraftschwund relevanter Bevölkerungsteile - selber die Mitschuld tragen, den Kaufkraftschwund durch ihre großenteils…
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