KONTEXT:Wochenzeitung
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Die Hilfstruppen der Redaktion

Die Hilfstruppen der Redaktion
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Kraftfahrzeuge werden von Automechanikern zusammengeschraubt. Schornsteine werden von Schornsteinfegern gereinigt. Tageszeitungen werden von Journalisten gemacht. Denkste. Immer häufiger liefern Leser redaktionelle Inhalte bei.’

Das Lied der Leserbindung wird in den Zeiten des allgemeinen Rückgangs bei Abonnenten in noch höheren Tönen gesungen als früher. Das älteste Instrument einer lebendigen Lesergemeinde ist wohl der schon seit über 200 Jahren bekannte Leserbrief. Noch heute gilt landläufig: Je mehr Seiten mit Lesermeinungen, umso interessanter die Zeitung und umso enger die Bindung der Leser an die Publikation. Wir lassen das einmal so stehen, auch wenn von anderer Seite die Quantität der Leserbriefe als Erstes am Bildungslevel der Bezieher gemessen wird.

Jedenfalls werden Leserbriefe heute nicht mehr als alleiniges Instrument angesehen, um Abonnenten und Käufer enger an eine Publikation zu ketten.

Studiert man die Mehrzahl der Tageszeitungen, entdeckt man eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die alle das Ziel haben, den Leser beim Blattmachern selbst einzubinden. Das führt bei den ehrenamtlich Mitwirkenden zu einem gesteigerten Selbstgefühl, bei einigen allerdings auch zu der Überschätzung, selbst journalistische Eigenschaften zu besitzen.

Eine der bereits antiquierten, aber immer wieder praktizierten Aktionen, um Leser zu animieren, ist die Kochrezepte-Sammlung. Geändert hat sich allenfalls, dass man heute ein paar um ihre Publicity bemühte Sterneköche die Vorreiter spielen lässt und dann die Leser zum Einsenden eigener Kochanleitungen aufruft. Weil Omas und Mütter ungezählte, von ihren Vorfahren über Jahrzehnte, wenn nicht sogar über Jahrhunderte gesammelte Rezepte hinterlassen haben und es Tausende durch Fernsehsendungen und Zeitschriften geschulte, selbst ernannte Hobby-Spitzenköche gibt, kann die Zeitung bequem über Monate hinweg honorarfrei viele Spalten füllen. Außerdem lässt sich mit der Sammlung am Ende ein Buch machen, das zumindest von den ‘Mitautoren’ gekauft wird. Nachgeprüft werden die Einsendungen im Übrigen nicht. Wer wie angegeben 50 Gramm Hefe nimmt statt der korrekten Menge von fünf  Gramm, lernt aus dem überquellenden Brot- oder Kuchenteig.

Die Jekami-Masche (Jeder kann mitmachen) lässt sich praktisch unendlich nutzen.

Klassiker sind etwa Urlaubsfotos. Hundertmal gesehen, aber scheinbar immer noch lustig: Papa schubst Mama in den Swimmingpool (oder umgekehrt), Ehemann mit rotem Rucksack unterm Gipfelkreuz oder Klein-Maximilian schüttet seiner Schwester Sand über den Kopf. Genauso alt, aber attraktiver: ‘Schreiben Sie uns Ihre schönsten Tiergeschichten’. Freundschaften mit Straßenhunden und Findelkätzchen oder die Dankbarkeit angefütteter Fuchswelpen liefern Redaktionsmaterial für ein ganzes Jahr. Beliebt sind derzeit nicht überprüfbare Lesergeschichten aus Kriegs- und Nachkriegstagen.

Dazu werden noch ältere Postkarten erbettelt, um den längst in Fülle vorhandener Stadt-Alben ein weitere hinzuzufügen. Aber der Ehrgeiz stolzer Mitgestalter ist geweckt. Jüngstes Zitat in einer Tageszeitung, wohl als Beweis der Leserbindung gedacht: ‘Die Flut der Leserzuschriften ebbt nicht ab.’ Hoch im Kurs stehen im Augenblick Dialektbeiträge, die sich nicht selten zur Privatkorrespondenz unter den Einsendern entwickeln, weil der Redaktion das Wissen oder der Wille, besonders aber die Zeit für Recherche fehlt, um falsche Aussagen zu korrigieren. Gegenüber den abgedruckten Texten ist Wikipedia oft ein notariell dreifach abgesichertes Glaubwürdigkeitsprodukt.

Veröffentlicht wird wie geliefert. So geniert man sich etwa nicht, die Behauptung unkommentiert stehen zu lassen, das Sprichwort "‘Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht"’ sei ein original schwäbisches. Ähnliche honorarfreie Schwätzer besorgt man sich im Bereich Gemüse- und Blumengärten, Haushalt, Körperpflege usw. Neuerdings erscheinen auch vermehrt seitenlange Beiträge, in denen Menschen – mal interessant, mal weniger – ihren Lebenslauf nach eigenem Gusto schildern dürfen, ohne eine Zwischenfrage, um Hintergründe aufzuklären oder einen Kernpunkt zu vertiefen. Ein Interview wäre zu aufwendig. Hauptsache, die Artikel erfordern kein Honorar. In diese Rubrik fallen auch die gesammelten Leserbeiträge über Stadtquartiere und Straßen, aus denen sich leichte eine honorarfreie Doppelseite gestalten lässt. Es sei angefügt, dass sich natürlich auch aus all diesen Aktionen Bücher machen lassen.

Zur Vollständigkeit muss man erwähnen, dass auch von professioneller Seite mächtig Hilfe für kostenloses Material kommt. Die Redaktionen werden überschwemmt mit Meldungen und ganzen Artikeln von der Freizeit-, Automobil-, Pharma-, Kosmetik-, Nahrungsmittel- und anderen Industrien. Künstleragenturen liefern fertige Filmkritiken und vorproduzierte Interviews mit Stars aller Art. Das alles reicht bequem, täglich viele Spalten zu füllen. Bei manchen Tageszeitungen liest man mehr über den Ehekrach bekannter Schauspieler in Hollywood als zum Beispiel über eine aus dem Ruder gelaufene Demonstration extremer Gruppen in der Kommune, bei der Hunderte von Bürgern stundenlang in öffentlichen Verkehrsmitteln ausharren mussten, weil ihnen von der Polizei aus Sicherheitsgründen das Aussteigen verboten wurde. Die Zeitungsleser unter den Betroffenen, die sich am nächsten Tag über die Hintergründe der erlebten Situation informieren wollen, finden in ihrem Blatt darüber eine Notiz, die auch nicht viel größer ist als eine Meldung über die Nacht von Prinz Harry in einer Kühlzelle.

Der Trend zur honorarreduzierten’ Zeitung, von vielen Verlegern vorgegeben, von hörigen, bequemen oder um ihren Arbeitsplatz bangenden Journalisten oft noch mit innovativen Vorschlägen gefördert, bestätigt eine schleichende Entwicklung bei vielen, leider sehr vielen Tageszeitungen: Vom einst wichtigen Medium für Information tendieren sie mehr und mehr in Richtung Unterhaltungsblatt. Denn die von den ehrenamtlichen redaktionellen Hilfstruppen gelieferten kostenfreien Beiträge enthalten meist so viel Information wie eine Wassersuppe Fettaugen. Unterhaltung aber können andere Medien besser. Zudem verärgert diese nur scheinbar effiziente Mischung den typischen Zeitungsleser, also in der Regel die langjährigen Abonnenten. Die Verleger und Redaktionen, die voller Hoffnung den Weg der neuen, kostenfreien Leserbindung gehen, werden noch tiefer im Sumpf des Abonnenten-Rückgangs landen als andere. Und zwar mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. So sind die ‘Neuen-Wege-Geher’ oft nichts als gedankenlose Sterbehelfer beim Niedergang der traditionellen Tagespresse, den auf Dauer auch erfolgreiche Anzeigenakquisiteure nur verzögern, aber nicht aufhalten können. Dass es auch anders geht als in diesem Beitrag beschrieben, beweisen einige Tages- und Wochenzeitungen, die sich der Information in all ihren Facetten und der Recherche verpflichtet fühlen und damit erfolgreich agieren. Zumindest erfolgreicher als die dilettantisch operierenden und vom Auflagenrückgang getriebenen Leserbinder.


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3 Kommentare verfügbar

  • Mißbrauchter
    am 29.09.2013
    Antworten
    Ist doch ein schönes Beispiel dafür wie die in ganz Deutschland praktizierte (und vor kurzem erst gefestigte) geldorientierte Politik und eine Bürger(Leser)beteiligung unter einen Hut gebracht werden kann.
    Ich bin geneigt darin eine neue Dimension des Fortschritts zu erkennen. Neu in so fern, dass…
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