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200 Jahre WKV Stuttgart

Achtsamer durch Kunst

200 Jahre WKV Stuttgart: Achtsamer durch Kunst
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Stuttgarter Bildungsbürger gründeten 1827 den Württembergischen Kunstverein. Eine Selbsthilfemaßnahme, wenn auch nur von und für männliche Bürger. Zum zweihundertsten Geburtstag in zwei Jahren forscht der Verein schon jetzt nach seiner Geschichte.

Wo sich heute in der Unteren Königstraße das Modegeschäft Peek & Cloppenburg befindet, fand in den Jahren ab 1819 eine der erfolgreichsten Kunstausstellungen statt, die Stuttgart jemals gesehen hat. Zwischen 10.000 und 18.000 Besucher:innen sollen schon in den ersten fünf Monaten in den früheren Offizierspavillon gekommen sein – bei kaum mehr als 30.000 Einwohner:innen.

216 Gemälde hatten damals die Brüder Sulpiz und Melchior Boisseré aus säkularisierten Kölner Kirchen zusammengetragen. Der württembergische König Wilhelm I. wollte die Sammlung erwerben, deshalb kam sie nach Stuttgart. Doch der Landtag spielte nicht mit. So erhielt Bayernkönig Ludwig II. den Zuschlag und die Sammlung wurde zum Grundstock der Alten Pinakothek München. Daraufhin gründeten führende Bürger der Stadt einen Kunstverein, der noch im selben Jahr, 1827, in den Offizierspavillon einzog.

In zwei Jahren wird der Württembergische Kunstverein (WKV) also 200 Jahre alt. Hans D. Christ und Iris Dressler, die Direktor:innen, haben jetzt schon angefangen, sich darauf vorzubereiten, und zwar vor aller Augen. "Konstellation 1" nennen sie, was jetzt als erstes Ergebnis der Sichtung ihres Archivs und eigener Recherchen im Vierecksaal des WKV ausgestellt ist. Zunehmend sollen auch Künstler:innen mitmachen. Christ und Dressler wollen nicht nur die Geschichte aufarbeiten, einschließlich der problematischen Aspekte, sondern erhoffen sich grundlegende Erkenntnisse zur Selbstorganisation der bürgerlichen Gesellschaft.

Kunstvereine waren Aktiengesellschaften: Mitglieder erwarben Aktien im Wert von fünfeinhalb Gulden. Vom Kapital, das auf diese Weise zusammenkam, kaufte der Verein Kunst, die ausgestellt und alle drei Jahre per Losverfahren an die Mitglieder verteilt wurde. So entstand eine Gemeinschaft von durchweg männlichen Künstlern, Sammlern und Kennern, von der immer wieder wichtige Impulse für die Gesellschaft ausgingen, wie etwa die verlegerische Tätigkeit des Gründungsmitglieds Johann Friedrich Cotta beweist, des "Bonaparte unter den Buchhändlern", wie er auch genannt wurde.

Kunst soll die Menschen bessern

Politisch fiel die Gründung des WKV in eine Epoche der Restauration. Die Französische Revolution hatte die alte Ordnung erschüttert, aber nicht dauerhaft beseitigt. Das Bürgertum suchte nach eigenen Ausdrucksformen, Künstler suchten nach neuen Auftraggebern. Dass Kunst eine wichtige Rolle spielte, davon waren viele überzeugt. So auch der Bildhauer Johann Heinrich Dannecker, der Freund Friedrich Schillers. Er hatte keine materiellen Sorgen, seit er 1802 Heinrike, die Schwester des Hofbankdirektors Gottlob Heinrich Rapp, geheiratet hatte, der selbst ein kunstinteressierter Mann war. Dannecker besaß ein großes Atelierhaus am Schlossplatz, direkt neben dem heutigen Kunstgebäude.

Danneckers Hauptwerk, die "Ariadne, die auf dem Panther reitet" – eine Kopie davon ist in der Rotunde der Staatsgalerie zu sehen –, ist ein Sinnbild für das, was Schiller in seiner Abhandlung "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" geschrieben hatte: Die Französische Revolution hatte in einer Gewaltorgie geendet, durch Kunst sollten die Menschen lernen, achtsamer zu werden. "Die Bezähmung der Wildheit durch die Schönheit", so bezeichnete Dannecker das Thema seines Werks.

Genau dies steht nun auf einer der großen Stelltafeln, auf denen der WKV seine Geschichte in Wort und Bild aufarbeitet – und ein wenig gegen den Strich liest. Zu Hilfe kommt ihm dabei eine Künstlerin: die 1776 in Waiblingen geborene Luise Duttenhofer. Weil ihre Eltern ihr verboten, Kunst zu studieren, verlegte sie sich auf Scherenschnitte, in denen sie humorvoll ihre Umgebung aufs Korn nahm. Zum Beispiel Dannecker, wie er vor seiner Ariadne an einer Schillerbüste meißelt. Oder den Hofbankdirektor Rapp, der Johann Wolfgang von Goethe bei dessen Besuch in Stuttgart einen Kerzenleuchter voranträgt.

Rapp war Gründungsvorsitzender des WKV. Er zeichnete selbst, gab das erste Lehrbuch überhaupt zur Lithografie (Steindruck) heraus, einer damals neuen Drucktechnik, und beauftragte einen Münchner Künstler, die gesamte Sammlung Boisseré in Lithografien zu übertragen. Ein Bildungsbürger, wie er im Buche steht. Mit dem Verleger Cotta gab er das "Morgenblatt für gebildete Stände" heraus. In Cottas "Allgemeiner Zeitung" schrieb wiederum auch Heinrich Heine.

Einst gegen Vaganten, später gegen Racial Profiling

Christ und Dressler wollen auch die Schattenseiten der WKV-Geschichte ausleuchten, beschäftigen sich beispielsweise mit dem Gründungsmitglied Karl Eberhard von Wächter. 1807 hatte er als Oberregierungsrat des Oberpolizeidepartements eine "Polizei-Verordnung gegen Vaganten und andere der öffentlichen Sicherheit gefährliche Personen" erlassen und eine erste Landespolizei gegründet. Von da aus zieht das Direktor:innenduo eine Linie zur Verfolgung der Sinti und Roma, zum Vagabundenkongress 1929 bis zum Racial Profiling heute.

Den drei Ideen "der Konstitution des (weißen, männlichen) Bürgers als Souverän, der Freiheit der Kunst und der Nationenbildung" will der Kunstverein nachgehen. Nicht-Weiße waren ebenso wenig mitgedacht wie Frauen. Hier setzt die aktuelle Ausstellung "Konstellation 1" einen Gegenakzent. Neben Duttenhofers Scherenschnitten liegt ein weiterer Schwerpunkt auf Alice Widensohler. Sie wurde direkt nach dem Zweiten Weltkrieg Direktorin des Kunstvereins – die erste Frau auf diesem Posten. 2005 folgte dann Iris Dressler als zweite.

Bei ihrer Verabschiedung 20 Jahre später sagte Josef Hirn (SPD), Erster Bürgermeister der Stadt und Vorsitzender des Vereins, "endet damit ein Abschnitt der 138-jährigen Geschichte des Württembergischen Kunstvereins, in dem es vor allem dank des vollen Einsatzes von Alice Widensohler gelang, ihn aus den Trümmern und der Not der ersten Nachkriegszeit herauszuführen, ihm allmählich wieder die alte Geltung zu verschaffen und ihn zu einer Institution zu entwickeln, die heute weit über Stuttgart und die Grenzen unseres Landes hinaus auch im Ausland Beachtung und Anerkennung findet".

Widensohler hatte einen weiten Horizont: Früh zeigte sie in mehreren Ausstellungen die kurz zuvor noch verfemte moderne Kunst, dann auch Reinhold Nägele, der damals noch in New York lebte, wohin er wegen seiner jüdischen Frau emigriert war. Sie war es, die 1961 das Kunstgebäude mit einer Ausstellung über Adolf Hölzel und dessen Schülerinnen und Schüler wiedereröffnete.

Ein weiteres Thema, zu dem Christ und Dressler recherchiert haben, ist die Kolonialgeschichte. Otto Böhm etwa, der Gründer der Kolonialwarenhandlung, die sich später Feinkost Böhm nannte, war Mitglied im WKV-Verwaltungsrat. Unter Oberbürgermeister Karl Lautenschlager, später Vereinsvorsitzender des WKV, fand in der Gewerbehalle, ungefähr dort, wo sich heute die Universitätsbibliothek befindet, 1928 eine Kolonialausstellung statt – ein Jahr nach der Werkbund-Ausstellung "Die Wohnung".

"Konstellation 2" steht schon in den Startlöchern

Die aktuelle Ausstellung bietet einen facettenreichen Gang durch die Stuttgarter Geschichte. Eine Tafel zeigt die vielen Standorte, an denen der WKV Quartier bezog, bevor er 1913 und nach den Kriegszerstörungen wieder 1961 ins Kunstgebäude am Schlossplatz einzog. Ausstellungsplakate vor allem aus der Zeit der WKV-Leitung von Uwe M. Schneede und Tilman Osterwold nach 1968 zeigen, wie sich der Verein immer wieder auch politisch positionierte. Vieles ist allerdings noch nicht erforscht. Die NS-Vergangenheit zum Beispiel oder die Mitglieder und Ausstellungen der Zeit davor.

Hier ist noch viel Arbeit zu leisten, und in die möchten Dressler und Christ ihre Mitglieder, Künstler:innen und eine interessierte Öffentlichkeit einbinden. So haben Sammler spontan ein paar Originale von Luise Duttenhofer zur Verfügung gestellt. Zu den schönsten Stücken gehört ihr Scherenschnitt "Grenzen der Weiblichkeit": Zwei Frauen sitzen in einer Kutsche, von vier Männern umgeben, gezogen von Schweinen.

Aktuelle künstlerische Arbeiten gibt es noch wenige. Daniel García Andújar hat die künstliche Intelligenz getestet. Bilder aus dem Archiv des Kunstvereins, die revolutionäre Szenen oder Aufstände zeigen, hat er der KI verbal beschrieben, um zu sehen, ob der Algorithmus problematische Inhalte ausfiltert. Der Titel der Serie "Cancel Culture" bezieht sich zugleich auf Denkmalstürze wie 2020, als in Bristol die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston vom Sockel gestürzt wurde. Herausgekommen sind seltsame Ansichten, die entfernt an die Stuttgarter Realität, etwa an die Stiftskirche oder den Schlossplatz erinnern.

In der nächsten Ausstellung "Konstellation 2" sollen dann ab 24. Mai weitere Arbeiten dazukommen, die sich mit der Geschichte des WKV beschäftigen. Die künstlerische Forschung ist also in vollem Gange. Auch die Mitgliederausstellung des Kunstvereins ab 23. August steht diesmal unter dem Thema des 200-jährigen Bestehens. Aus den nun begonnenen Recherchen soll dann in zwei Jahren die eigentliche Jubiläumsausstellung entstehen.


Die Ausstellung "Anschlüsse an 200 Jahre Gegenwart. Der Kunstverein und die Fiktionen von Souverän, Freiheit und Nation – Konstellation 1" läuft bis 4. Mai. Vom 24. Mai bis 3. August folgt Konstellation 2 und von 23. August bis 21. September die WKV-Mitgliederausstellung.

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