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Württembergischer Kunstverein

Offenes Haus, auch während Corona

Württembergischer Kunstverein: Offenes Haus, auch während Corona
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Vor der geplanten Sanierung des Stuttgarter Kunstgebäudes hat der WKV das Haus für Hochschulen, Initiativen und Kultur geöffnet. Damit soll jetzt Schluss sein. Doch der Bedarf ist groß.

"Wie viele Hochschulen haben wir für das Wintersemester 2020/21 aktiv nach zusätzlichen Räumen für unsere Lehrveranstaltungen gesucht", sagt Barbara Bader, die Rektorin der Stuttgarter Kunstakademie, "und waren in diesem Zusammenhang sehr dankbar für die Gastfreundschaft des Württembergischen Kunstvereins (WKV). Eine räumliche und zeitliche Entzerrung ist (bzw. wäre) das A und O für die sichere Durchführung unseres Präsenzunterrichts."

Mehrfach hat die Kunstakademie seit Juni das Kunstgebäude am Schlossplatz genutzt: für ein "Laboratorium und Öffentliches Picknick", die Diplomausstellung, eine Vorlesung. Susanne Windelen arbeitet mit ihren Studierenden gern vor Ort, bezogen auf einen bestimmten Raum. Die erste Hälfte ihres Moduls hat im Kunstgebäude stattgefunden, nun müssten die Studierenden zwei Wochen dort arbeiten. Sie hofft, dass das noch stattfinden kann.

Vor allem geht es, wie Bader erläutert, um diejenigen "öffentlichen Veranstaltungen, die wir nicht in den digitalen Raum haben verlegen wollen, für die aber unsere eigenen Räumlichkeiten in Anbetracht der aktuell einzuhaltenden infektionsschützenden Maßnahmen zu klein sind." Im Dezember waren noch Antrittsvorlesungen geplant, die nun abgesagt werden mussten. "Natürlich ist die zentrale Lage des Kunstgebäudes ein schöner Zusatzeffekt, fügt die Rektorin hinzu, "und wir freuen uns sehr über ein Schaufenster zur Stadtöffentlichkeit, welches uns hier am Campus Killesberg aus städtebaulichen und architektonischen Gründen leider etwas fehlt."

Präsenzunterricht ist ein Thema, das alle Hochschulen betrifft. Mehr als 6.000 HochschullehrerInnenhaben im Sommer einen offenen Brief "Zur Verteidigung der Präsenzlehre" unterzeichnet, über sechzig auch aus Stuttgart. Keineswegs geht es an den Hochschulen allein um Vermittlung von Faktenwissen, vielmehr um den selbständigen Umgang mit den Quellen. Dazu braucht es Anleitung, digitale Lehrangebote allein reichen nicht aus. ProfessorInnen können ihre StudentInnen nur beurteilen, wenn sie sie kennenlernen. Für die Studierenden ist die Uni auch ein Ort des Austauschs.

Der zentrale Kuppelsaal des 1913 eröffneten Kunstgebäudes erweist sich unter den schwierigen aktuellen Bedingungen als idealer Raum, um vor Infektionen weitgehend geschützt Begegnungen zu ermöglichen. Der Württembergische Kunstverein hat nach eigenen Angaben "ein Hygienekonzept entwickelt, das auch die Begegnung mit sogenannten Risikogruppen erlaubt. Der große hohe Kuppelsaal lässt Veranstaltungen mit bis zu 60 Personen bei genügend Abstand zu, die Galerieräume eignen sich für Ausstellungen, Proben und Workshops in kleineren Gruppen."

"Unter den genannten Voraussetzungen konnte im Juli 2020 die erste Präsenzlehre einer Hochschule in Baden-Württemberg während der Pandemie durchgeführt werden", schreibt der WKV in einem Papier, in dem der Verein anregt, die Nutzung der Räumlichkeiten, bisher terminiert bis Ende des Jahres, noch bis ins Frühjahr hinein zu verlängern. Um "für die kommenden Wochen und Monate der Pandemie Räume vorzuhalten, in denen sich Menschen sicher begegnen und Erfahrungen teilen können."

Ort der Diskussion, auch über die "Krawallnacht"

Eigentlich war es mit der künstlerischen Nutzung des Gebäudes, das von 2013 bis 2016 als Ausweichstätte während der Sanierung des Landtags gedient hatte, Ende 2018 vorbei. Denn erneut wollte das Land den Bau in Beschlag nehmen, diesmal um Teile des Staatsministeriums unterzubringen, während das Neue Schloss saniert wird. 2019 sollte es losgehen – doch es tat sich nichts. Im März 2020 hätte dort die Opernausstellung von Alexander Kluge eröffnen sollen, doch genau an dem Tag mussten alle Kultureinrichtungen schließen.

Tatsächlich war die Kluge-Ausstellung dann doch vom 8. Mai bis zum 14. Juni geöffnet. Eine Woche danach kam es zur sogenannten Stuttgarter Krawallnacht. Nach den Äußerungen des Polizeipräsidenten Frank Lutz sahen sich junge Menschen mit Migrationshintergrund einem Generalverdacht ausgesetzt. Verschiedene Gruppen, unter anderem die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), kamen im Kunstgebäude zu einem Runden Tisch zusammen, um zu beraten, wie sie mit der Situation umgehen könnten.

"Das war total wichtig, dieses Treffen", unterstreicht Madina Muse Mohamed, die von 2012 bis 2017 die Regionalgruppe der Initiative geleitet hat. Die ISD gibt es seit den 1980er-Jahren, mitbegründet von der Lyrikerin und Aktivistin May Ayim. "Welche Räume für politische Veranstaltungen haben wir denn in Stuttgart?" fragt Mohamed. "Insbesondere für junge migrantische Initiativen." In anderen Städten sei dies besser. Mohamed muss es wissen, denn sie arbeitet im Veranstaltungsmanagement der Robert Bosch Stiftung in Berlin. Mohamed hat das Kunstgebäude in dieser Zeit auch als Workspace genutzt. "Wo sollen junge KünstlerInnen und AktivistInnen sonst arbeiten?" fragt die junge Stuttgarterin und findet es "schade, dass das jetzt schon wieder kaputt gemacht wird."

Luftabzug und Tische mit Plexiglas

Möglich war die Nutzung des Kunstgebäudes wegen des dortigen Hygienekonzepts. Masken und Abstand sind selbstverständlich; diszipliniert haben sich alle Besucher registriert. Unter der hohen Kuppel zieht die Luft nach oben ab, durch Absaugung verstärkt. Zudem hat der Kunstverein, schon während der Schließungen im Frühjahr, Tische mit einem Plexiglaskreuz konstruiert, an denen sich vier Personen ohne Gefahr unterhalten können. Im Vergleich zu Shopping Malls und manchen Arbeitsplätzen kann der Saal, der derzeit ohnehin nur von maximal 60 Personen mit Abstand genutzt werden kann, als ausgesprochen sicher gelten.

Aber nicht nur deshalb plädiert Hans D. Christ, mit Iris Dressler Direktor des Kunstvereins, für eine bis April verlängerte Nutzung. Gerade in der derzeitigen Situation hält er eine weitere Öffnung für unverzichtbar. Bis Ende Oktober war dies mit dem Wissenschaftsministerium abgesprochen, das bis dahin die Regie im Haus geführt hat. Seitdem hat die Staatliche Hochbauverwaltung das Sagen, die einem Betrieb bis Ende des Jahres zugestimmt hat, Anfang nächsten Jahres aber mit der Sanierung beginnen will. Nun musste für November wieder alles abgesagt werden, und der Dezember ist mehr als unsicher.

Christ stellt sich nicht gegen die Sanierung. Der WKV habe das Konzept sogar mit gestaltet. Die Direktion und Verwaltung des Kunstvereins ist bereits ausgezogen, in die Werastraße 28. In den Räumen, die später einmal das Künstlerbund-Café beherbergen sollen, könnte mit der Sanierung begonnen werden, meint er, während der Kuppelsaal bis April weiter geöffnet bleiben könnte. Denn der Bedarf, das haben die letzten vier Monate gezeigt, ist groß.

Nicht nur die Kunstakademie, auch die Universität und die Musikhochschule haben das Kunstgebäude genutzt, Christ selbst für ein Blockseminar, das er an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe gegeben hat, und die Initiative bond_ASAP für eine "offene und freie neue Universität als gesellschaftliche Bildungseinrichtung".

Fridays for Future, Migrantifa und das Bürgerprojekt "Die AnStifter" haben mehrfach im Kunstgebäude getagt, aber auch die Jugendverbände Baden-Württemberg und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Es gab eine Solidaritätsveranstaltung mit der in Weißrussland verhafteten Musikpädagogin und Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikava. Auch die Proben für das Festival "Die irritierte Stadt" im Juli haben im Kunstgebäude stattgefunden, mehrere Performances, Lesungen und zwei Filmfestivals. Dies alles hat Christ mit seinem Team nahezu im Alleingang gemanagt.

Pandemie und die Möglichkeit des offenen Hauses

"Sehr sympathisch" fand dies Christof Löser, Dirigent des Ensembles Suono mobile, das im Oktober zwei Wochen im Kunstgebäude geprobt und anschließend die Werke zweier Musikhochschulabsolventen uraufgeführt hat. Der Titel "deadlocked" zeigt, wie die Corona-Situation auch die jungen Komponisten beschäftigt. Der Kuppelsaal sei "der perfekte Raum für ein Konzert mit 60 Zuhörern", findet Löser. Im Glastrakt des WKV, wo das Konzert eigentlich hätte stattfinden sollen, wären aktuell nur zehn Zuhörer zulässig gewesen.

Vor allem aber gefällt ihm das Konzept des offenen Hauses, wo sich Künstler verschiedener Sparten, Aktivisten und interessierte BürgerInnen begegnen. Löser gehört auch zum Team des Campus Gegenwart, einem neuen, fachübergreifenden Zentrum der Musikhochschule in Zusammenarbeit mit der Kunstakademie und der Merz Akademie. Es geht darum, in Theorie und Praxis das Schneckenhaus des eigenen Fachs zu verlassen, nicht nur Werke zu komponieren und aufzuführen, sondern mit anderen Künsten Kontakt aufzunehmen und danach zu fragen, welche Rolle Kunst in der Gesellschaft spielen kann.

Dafür sei der Kuppelsaal "geradezu ideal", meint Löser: wegen seiner Lage im Zentrum der Stadt, dem offenen Publikum, der Werkstatt und der Unterstützung durch den Kunstverein. Während der Proben des Ensembles fand zugleich die Diplomausstellung der Akademie statt, sodass Kunst- und Musikstudierende wie von selbst zusammenkamen und etwas von den Aktivitäten der jeweils anderen erfuhren. Das Kunstgebäude sei ein Raum, so Löser, "wo sich die verschiedenen Kunstformen offen und unkompliziert begegnen."

An der Musikhochschule sei alles durchgetaktet, konstatiert der Dirigent. Proben und Aufführung in einem Raum wären dort nicht möglich gewesen. Dies bestätigt auch Julia Wirsching, die Geschäftsführerin von Campus Gegenwart. Alle seien derzeit auf der Suche nach großen Räumen. "Wir sind auf jeden Fall daran interessiert, dass dieser Ort weiter bestehen bleibt", meint sie, auch mit Blick auf die Zeit nach der Sanierung: "Die Hoffnung ist natürlich, dass die Stadt diesen Raum weiterhin zur Verfügung stellt."


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