Bergen/Belgin ist so etwas wie die komplexe Figur, in der die Fäden der Versammlung und Ausstellung zusammenlaufen. Belgin, der Projektraum, ist der Dreh- und Angelpunkt, offen auch für die Bergener Zivilgesellschaft wie der Glastrakt des WKV. Daneben gibt es fünf Ausstellungsräume, darunter die Bergen Konsthall, ein Museum und die ehemalige Fleischfabrik Bergen Kjøtt. Die Sängerin Bergen steht aber auch für die nachdenkliche Seite des Programms. Jeder Versuch, in der Kunst anders, kritischer, radikaler zu sein, so Christ und Dressler, ende sogleich damit, von den Ökonomien und Mechanismen der Kunstwelt aufgesogen zu werden: ein "radical chic", der zu nichts führt. Es bleibt aber ein Rest: die gescheiterten Kämpfe, die Unterlegenen, die Verletzten, die Toten.
Angewiesen auf die Solidarität der Toten
Der Titel, "Actually the Dead are not Dead", stammt aus der Trauerrede von Alexander Kluge auf den 1995 verstorbenen Dramatiker Heiner Müller. Im Original heißt der Satz: "Es ist ein Irrtum, dass die Toten tot sind." Zwei Sätze vorher sagt Kluge: "Es ist eine sehr spezifische Feststellung von Heiner Müller, dass die Lebenden nur die eine Hälfte des Wirklichen sind. Die andere Hälfte sind die Toten." Davon geht die Bergen Assembly aus.
Auf die Frage, welchen Beitrag Kunst zu politischen Prozessen leisten kann, wo sie ja gerade nicht Kampagne, Partei, NGO oder Aktivismus ist, nennt Dressler drei Punkte: Sie kann parodistisch mit dem Geschehen umgehen; ihre Stärke ist die Imagination; und sie spricht von einer "Assembly der Gespenster". "Wenn die Solidarität unter den Lebenden Risse aufweist", sagt Dressler, "sind wir angewiesen auf die Solidarität der Toten."
Der in dieser Abstraktion nicht ganz leicht nachzuvollziehende Satz wird deutlicher, wenn man von konkreten Arbeiten ausgeht. Eine zentrale Position hat die Liste von Banu Cennetoğlu, die auch dem Kuratorenteam angehört. Seit 2006 veröffentlicht die türkische Künstlerin in Zeitungen, auf Litfasssäulen, Plakatwänden oder in anderer Form die Namen der mittlerweile mehr als 35 000 Menschen, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken sind. Sie verzichtet darauf, ihren eigenen Namen zu nennen. Es geht ihr um die Toten.
Von da aus führen die Wege zu den einzelnen Positionen der Ausstellung: Einer der Kuratoren ist der türkische Anwalt Murat Deha Boduroğlu, der sich um die Opfer von Arbeitsunfällen kümmert – mindestens 1872 kamen 2018 in der Türkei ums Leben. Die Geister der Vergangenheit finden sich auch in den europäischen Museen in Form kolonialer Objekte. Dazu hat die Künstlerin Emma Wolukau-Wanambwa das Kulturhistorische Museum der Universität Bergen untersucht. Zu den Gespenstern der Vergangenheit zählt Christ auch die gescheiterten Bewegungen von gestern. Er nennt die Initiative gegen den Abtreibungsparagrafen in den 1920er-Jahren: Hätte sie Erfolg gehabt, sähe die Welt heute anders aus.
Solidarität der Lebenden: "Könnte aber doch" im WKV
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