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Frühjahrsfestival der Oper Stuttgart

Glück und Pech im Spiel

Frühjahrsfestival der Oper Stuttgart: Glück und Pech im Spiel
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Ob auf der Theaterbühne, im Orchester, am Küchentisch, im Sandkasten, im Casino: Spielen ist ein Bedürfnis. Und so reiht sich die Oper Stuttgart mit ihrem Frühjahrsfestival abseits der Bühne in den Spielereigen ein, aus Spaß und um alle anzusprechen – nicht nur Opernfans.

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Der Glastrakt des Württembergischen Kunstvereins (WKV) hat sich in ein Spielcasino verwandelt. Aber bitte: gediegene Abendunterhaltung, keine einarmigen Banditen. Spiegelfolien und Tücher mit großformatigen Figuren, die Spiel und Glück versinnbildlichen, hängen vor den Scheiben, mit groben Pinselstrichen gezeichnet von Ulrike Theusner aus Frankfurt an der Oder. Analog gestaltet sind die Flaschen auf der Bar, eine Discokugel hängt von der Decke und noch erklingt Ragtime vom Band. Bis der Spieleabend beginnt.

Um die 40, 50 Personen sind gekommen, meist ältere Jahrgänge, aber auch Jüngere sind dabei und nicht nur Bildungsbürger:innen. Eher Mitspieler:innen als Zuhörer:innen. Sie lassen sich an Tischen nieder und holen sich Getränke. Jede:r hat beim Eintreten eine Karte ziehen dürfen und muss nun auf den runden Cafétischchen nach einer Papiertüte suchen, an die die gleiche Karte geheftet ist. Eichel Unter zum Beispiel: Unter entspricht Bube, Ober der Dame. Und wie heißen diese Kugeln? Das sind Schellen. Das deutsche Blatt ist nicht mehr allen geläufig, das französische – Kreuz, Pik, Herz, Karo – hat sich durchgesetzt.

"Alles auf Null" – so ist der Abend angekündigt: ein Programmpunkt des Frühjahrsfestivals der Stuttgarter Oper, das diesmal dem Thema Spiele gewidmet ist. Kinder spielen, Musik wird gespielt, auch Sport ist eine Art Spiel. An diesem Abend geht es um Glücksspiele. Und so tritt Stine Marie Fischer als Glücksgöttin Fortuna vor den Flügel, mit Zylinder und Glitzerweste, auf hochhackigen Schuhen, die unter weiten Hosenbeinen hervorblitzen, und führt in den Abend ein mit Max Raabes "Ein Tag wie Gold".

Und schon muss jede:r seine oder ihre Mitspieler:innen suchen, die dieselbe Farbe haben, also Eichel oder Schellen – französisch Pik oder Karo –, sodass die Gruppen neu durcheinandergewürfelt werden und nicht die beieinander bleiben, die zusammen gekommen sind. Sie ziehen aus den vorab gesuchten Tüten Aufgaben. Puzzle, Begriffe sortieren, Ziffern ermitteln, damit ein Zahlenschloss öffnen, Süßigkeiten ernten und mit denen bei den drei befrackten Helfern Hinweise für das weitere Spiel kaufen. Während die Spieler:innen durcheinander laufen, tüfteln, sich den Kopf zerbrechen, bis der nächste Gongschlag ertönt und eine neue Runde beginnt, überbrückt Nicholas Kok, der Stine Marie Fischer am Klavier begleitet, gekonnt die Zeit.

Als "Croupière" ist die Sängerin angekündigt, doch der Roulettetisch, der wie ein Altar am oberen Ende des Saals aufgebaut ist, dient eher als Deko, um das Glücksspiel zu symbolisieren. Dort warten die neuen Aufgaben, die jede Gruppe zu lösen hat. Niemand kommt hier raus, dem das nicht gelingt, kündigt die Glücksgöttin an. Es ist wie in einem Escape Room, aber auch wie in der mittelalterlichen Allegorie: Fortuna regiert, mal hat man Glück, mal Pech, dagegen ist nichts zu machen.

Das Ziel: neues Publikum anlocken

Opernintendant Viktor Schoner tritt an die Bar und wechselt ein paar Worte mit seinem Team. Er hat das Frühjahrsfestival eingeführt, gleich in seiner ersten Saison in Stuttgart 2018/19. Schoner ist sich nicht sicher, ob die klassische Oper in Zukunft noch genauso viel Publikum anziehen wird wie heute. Er will nicht nur das gehobene Bildungsbürgertum erreichen, sondern auch Menschen ansprechen, die sonst nicht ins Opernhaus kommen: Das geht am besten an anderen Orten, mit anderen Formaten wie hier im WKV, hofft er.

Im Kunstverein gibt es am Ende keine Verlierer:innen, sondern nur Gewinner:innen. Der Gewinn ist ein unterhaltsamer Abend, an dem die Besucher:innen von bloßen Konsument:innen zu aktiven Mitspieler:innen werden. Ein solcher Escape Room kann sowohl Opernfans einen Einblick in heutige Spielewelten eröffnen, als auch Menschen, denen Spiele Vergnügen bereiten, an die Oper heranführen. Niederschwellig ist das Programm des Festivals angelegt.

Am vergangenen Sonntagmittag, vor Beginn der "Tosca" von Giacomo Puccini, sind auf dem Opernvorplatz Spiele aufgebaut: vom Hüpfspiel "Himmel und Hölle" bis hin zum Tischkicker. Mehrere Spieleabende im WKV ohne Eintritt stellen Brett- und Kartenspiele bereit, auf Anfänger- wie auf Expertenniveau. Kenner:innen führen in die Materie ein, am morgigen Donnerstag etwa Annette Köger, die Leiterin des Spielkartenmuseums in Leinfelden-Echterdingen. Wer sagt, dass es zwischen der Oper und Brettspielen keine Verbindungen gibt? Der Bassbariton Shadi Torbey liefert den Gegenbeweis: Im Hauptberuf Opernsänger, entwickelt er nebenher Spiele.

Niederschwellig muss nicht heißen, sich dem Publikumsgeschmack anzubiedern. Das Festival hat mit einer langen Nacht der Spielwelten begonnen, die von der Staatsgalerie über das Kunstmuseum zum Württembergischen Kunstverein führte und in der auch Neue Musik von Kaija Saariaho, Mauricio Kagel und Bernhard Lang zu hören war. Musik für Kenner also, die das große Opernhaus nicht füllt.

Aber Schoner mag auch die leichte Muse der 1920er-Jahre. Die Musik von Max Raabe, der mit seinem Palast Orchester an diese Welt wieder anknüpft, bietet beim Glücksspielabend nur den Einstieg, gefolgt von den Originalen: Titel von Friedrich Hollaender und Mischa Spoliansky wie "Die Kleptomanin" oder "Alles Schwindel" bis zu Hollaenders bekanntestem Lied "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt", geschrieben für den Film "Der blaue Engel" mit Marlene Dietrich.

Auf der Suche nach Gemeinschaft

Witzig und geistreich waren die Schlager dieser Jahre, die auch auf gesellschaftliche Probleme reagierten, wenn etwa Spoliansky nach der Weltwirtschaftskrise die Revue "Wie werde ich reich und glücklich? Ein Kursus in zehn Abteilungen" schrieb. Aber Spoliansky und Hollaender waren Juden, beide mussten 1933 emigrieren. Hollaender schrieb vorher noch, nach einer Melodie aus der Oper "Carmen", den Titel "An allem sind die Juden schuld", den Nicholas Kok im WKV in seinem Klavier-Zwischenspiel anklingen lässt.

Opernsanierung wird teuer

Mehr als vier Jahre ist es her, seit Stadt und Land die Milliarde für die Opernsanierung durchgewinkt haben. Seitdem haben sie gemeinsam eine Projektgesellschaft gegründet, die seit vergangenem September auch einen Geschäftsführer hat. Allerdings sind die Baukosten inzwischen drastisch gestiegen. Ob das schon eingerechnet war und ob die Sanierung im Zeit- und Kostenrahmen bleibt, darf bezweifelt werden (Kontext berichtete). Allein schon die Interimsspielstätte soll nun eine Viertelmilliarde kosten und statt zur IBA'27 erst 2029 fertig sein. Wenn derzeit bei der Villa Berg alles nochmal auf den Prüfstand gestellt wird, könnte allerdings auch die zehnmal so teure Oper ein paar Abstriche in Kauf nehmen müssen.  (dh)

An dem Abend im WKV ist das Publikum zu sehr mit den Rätselaufgaben beschäftigt, um der Musik allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Die Gespräche übertönen fast die Songs – insofern ist es schade, dass ein Liederabend, der noch einmal Gelegenheit geboten hätte, dieselben Titel und viele andere zu hören, wegen Erkrankung ausfallen muss. Dafür bietet sich jenen, die "Alles auf Null" verpasst haben, am heutigen Mittwochabend eine zweite Chance.

Mit einem Kostümball im Club White Noise geht das Frühjahrsfestival am Sonntag zu Ende. Es versteht sich als Angebot zum Reinschnuppern und Mitmachen, denn das Opernhaus, so Viktor Schoner in seiner Ansprache zur laufenden Saison, soll "zu einem Ort werden, an dem sich die unterschiedlichsten Menschen" – also nicht nur die oberen Zehntausend – "begegnen und geborgen fühlen". "Dafür braucht es keinen hohen Aufwand, die Oper muss nur zugänglich sein. Dabei kann etwas viel Wertvolleres entstehen, das Schoner so benennt: "Lassen Sie uns auf die Suche danach gehen, was Gemeinschaft eigentlich bedeutet."


Der Spieleabend "Alles auf Null" wird am heutigen Mittwoch um 20 Uhr wiederholt, Infos hier. Am morgigen Donnerstag ab 18 Uhr gibt's einen Brettspieleabend, ebenfalls im WKV am Stuttgarter Schlossplatz. Und am Sonntagabend, Beginn 22 Uhr, findet im Club White Noise ein Kostümball statt, Titel: "Get a Wiggle on!" – Details hier.

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