Ameisengleich strömen kleine schwarze Menschen herbei. Sechs Straßen münden auf den Platz, der von hoch oben eingefangen wird: eine Perspektive, der sich der Stuttgarter Maler Reinhold Nägele gern bediente. Eine etwas dichtere Gruppe mit schwarz-rot-goldenen Fahnen steht zwei schwarz-weiß-rot beflaggten LKW gegenüber, von denen der eine einer herannahenden Straßenbahn im Weg steht. "Straßenkampf am Kernerplatz" heißt das kleine Gemälde, 42 mal 34 Zentimeter groß, das sonst wenig beachtet im Haus der Geschichte hängt. Obwohl 1925, als das Werk entstand, in der Landhausstraße tatsächlich eine Straßenbahn fuhr, ist die Darstellung alles andere als topografisch korrekt. Eigentlich handelt es sich auch nicht um einen Straßenkampf, sondern um eine Wahlveranstaltung zur Reichspräsidentenwahl, bei der sich, in Schwarz-Weiß-Rot, ein "Reichsblock" aus rechten Parteien, die für Paul Hindenburg votierten, und ein republikanisches Bündnis aus SPD, Zentrumspartei und kleineren Parteien gegenüber standen.
Zum ersten Mal seit 34 Jahren widmet sich das Kunstmuseum dem Maler, der zu den profiliertesten Stuttgarter Künstlern der Vorkriegszeit gehörte. Die Abstraktion war nicht seine Sache, heißt es in einem Fernsehfilm der 1960er-Jahre, der in der Ausstellung zu sehen ist. Dies galt damals als Manko, bescherte Nägele aber viele Fans, die sich freuten, dass bei ihm etwas zu erkennen war. Eben deshalb haftete ihm aber auch der Ruf eines etwas skurrilen, provinziellen Künstlers an, wo er doch eigentlich, 1923 Mitbegründer der Stuttgarter Sezession, zu den Fortschrittlicheren gehörte. Seine detailverliebte, kleinformatige Malerei stand jedoch in krassem Gegensatz zu den in der Nachkriegszeit vorherrschenden Tendenzen.
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