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Mit spitzem Pinsel

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Endlich ist im Stuttgarter Kunstmuseum wieder eine Reinhold-Nägele-Ausstellung zu sehen. Sie zeigt einen wachen Zeitgenossen, der die Ereignisse um ihn herum, von der Novemberrevolution bis zum "Dritten Reich", aufmerksam registrierte. Eine Fundgrube für Stuttgarter Stadtgeschichte.

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Ameisengleich strömen kleine schwarze Menschen herbei. Sechs Straßen münden auf den Platz, der von hoch oben eingefangen wird: eine Perspektive, der sich der Stuttgarter Maler Reinhold Nägele gern bediente. Eine etwas dichtere Gruppe mit schwarz-rot-goldenen Fahnen steht zwei schwarz-weiß-rot beflaggten LKW gegenüber, von denen der eine einer herannahenden Straßenbahn im Weg steht. "Straßenkampf am Kernerplatz" heißt das kleine Gemälde, 42 mal 34 Zentimeter groß, das sonst wenig beachtet im Haus der Geschichte hängt. Obwohl 1925, als das Werk entstand, in der Landhausstraße tatsächlich eine Straßenbahn fuhr, ist die Darstellung alles andere als topografisch korrekt. Eigentlich handelt es sich auch nicht um einen Straßenkampf, sondern um eine Wahlveranstaltung zur Reichspräsidentenwahl, bei der sich, in Schwarz-Weiß-Rot, ein "Reichsblock" aus rechten Parteien, die für Paul Hindenburg votierten, und ein republikanisches Bündnis aus SPD, Zentrumspartei und kleineren Parteien gegenüber standen.

Zum ersten Mal seit 34 Jahren widmet sich das Kunstmuseum dem Maler, der zu den profiliertesten Stuttgarter Künstlern der Vorkriegszeit gehörte. Die Abstraktion war nicht seine Sache, heißt es in einem Fernsehfilm der 1960er-Jahre, der in der Ausstellung zu sehen ist. Dies galt damals als Manko, bescherte Nägele aber viele Fans, die sich freuten, dass bei ihm etwas zu erkennen war. Eben deshalb haftete ihm aber auch der Ruf eines etwas skurrilen, provinziellen Künstlers an, wo er doch eigentlich, 1923 Mitbegründer der Stuttgarter Sezession, zu den Fortschrittlicheren gehörte. Seine detailverliebte, kleinformatige Malerei stand jedoch in krassem Gegensatz zu den in der Nachkriegszeit vorherrschenden Tendenzen.

Dass man Nägele auch ganz anders betrachten kann, zeigt die aktuelle Ausstellung, die ihn als "Chronist der Moderne" vorstellt. Dies ist er in einem doppelten Sinn: Zum einen gibt es eine ganze Reihe von Gemälden und Radierungen, die den Wandel der Stadt Stuttgart zu einer modernen Großstadt ins Bild setzen. Der Bau des Tagblattturms und des Mittnachtbaus sind zu sehen und die Weißenhofsiedlung kurz nach der Eröffnung. Das wichtigste Motiv aber ist der Neubau des Hauptbahnhofs, der sich von 1914 bis 1928 hinzog: Nägele malt 1923 den halbfertigen Bonatzbau, bald darauf den Abbruch von Teilen des alten Bahnhofs in der heutigen Bolzstraße und den Gleisbogen mit dem entstehenden Nordbahnhofviertel. Vom neuen Bahnhofsturm fällt der Blick in die Königstraße. Die Gäubahn und andere Linien verbinden die Stadt mit dem Umland. Licht spiegelt sich in Signalen und Oberleitungen: Offenbar steht der Maler den Veränderungen positiv gegenüber. Für Historiker sind diese Darstellungen eine Fundgrube. Sie zeigen Baustellenabläufe, Gebäude, die nicht mehr existieren, und viele weitere interessante Details.

Zum anderen beschäftigt sich Nägele aber auch mit dem Zeitgeschehen. Das Bild vom Straßenkampf zeigt, wie genau er auch die politische Entwicklung beobachtete. Es gibt eine ganze Serie von Arbeiten zur Novemberrevolution 1918, darunter ein Werk aus einer Privatsammlung, das an einem imaginären Platz in Berlin spielt, dem Bild vom Kernerplatz nicht unähnlich. Auch hier strömen Menschenmassen in zwei Zügen auf den Platz zu, mit roten Fahnen. Aber diesmal fallen Schüsse. Ein Panzer, Barrikaden und ein totes Pferd sind zu sehen. Verletzte gab es damals auch in Stuttgart, wie eine Darstellung des Katharinenhospitals verdeutlicht: Es herrscht reger Betrieb, eine Kutsche naht, ein Auto fährt weg, auf Bahren werden Verwundete herangetragen. Eine "Revolution im Parlament", wo ebenfalls scharf geschossen wird, bezieht sich wohl auf die Münchner Räterepublik, wo nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner bewaffnete rechte Freikorps in den Landtag eindrangen.

Realistisch im Stil, bissig im Inhalt

Nägele war bei diesen Ereignissen persönlich nicht zugegen. Sie sind auch nicht realistisch wiedergegeben, sie sind vielmehr Kommentare zum Zeitgeschehen, manchmal karikaturhaft zugespitzt, wenn es etwa zu einer "Revolution der Musikinstrumente" kommt, die sich selbst spielen, dirigieren und niederstechen. Eine Strandschlacht von 1922, wo die Anhänger von Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot aufeinander eindreschen, nimmt den Straßenkampf am Kernerplatz vorweg. Ungefähr zur selben Zeit entstand ein "Parteipanorama", das lange Zeit im Büro von Bundespräsident Theodor Heuss hing und sich heute im Besitz der Heuss-Stiftung befindet. Es besteht aus einer Achterbahnfahrt zwischen Zelten und Pavillons von SPD, DVP und verschiedenen kleineren Parteien, in der Mitte ein schwarzer Turm. Ein "Partei-Babel", ebenfalls 1925, zeigt gleich mehrere spiralförmige Türme, Pieter Bruegels Turmbau zu Babel nachempfunden, schwarz-rot-gold und schwarz-weiß-rot beflaggt. Offenbar herrscht eine babylonische Sprachverwirrung.

1933 erhielt Nägeles Frau, die Hautärztin Alice Nördlinger, Berufsverbot, weil sie jüdischer Herkunft war. Unterstützt von Freunden, allen voran dem früheren Bosch-Vorstandsvorsitzenden Hugo Borst, konnten sie noch bis 1939 im Land bleiben. Doch dann mussten sie Deutschland verlassen, nachdem sie ihre Kinder bereits vorausgeschickt hatten. Sie gingen nach New York. Erst 1963, nach dem Tod seiner Frau, kehrte Nägele zurück.

In der Ausstellung befinden sich auffallend viele nächtliche Szenen. Etwa der Blick auf den Stuttgarter Talkessel von 1938 und 1939: Einem Sternenmeer gleich ziehen sich Ketten von Straßenlampen die Hänge hinauf. Aber die Stadt liegt auch im übertragenen Sinne im Dunkel. Mit diesen Bildern hat Nägele Abschied genommen. Ganz schwach nur leuchtet ein roter Hoffnungsschimmer am Horizont.

 

Info:

Die Ausstellung <link https: kunstmuseum-stuttgart.de external-link-new-window>"Reinhold Nägele. Chronist der Moderne" im Kunstmuseum Stuttgart läuft bis zum 3. Juni und ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, freitags bis 21 Uhr geöffnet.


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