KONTEXT:Wochenzeitung
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Ausgabe 737
Gesellschaft

Projekt Erinnerungsorte Stuttgart

"Diese Orte sind unsere Zeitzeugen"

Projekt Erinnerungsorte Stuttgart: "Diese Orte sind unsere Zeitzeugen"
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Eine neue Homepage dokumentiert rund 200 Orte in Stuttgart, die an die NS-Zeit erinnern – ein in Deutschland bislang einzigartiges Projekt. Manche Denkmäler, Mahnmale und Erinnerungsorte sind so versteckt, dass sie kaum jemand kennt.

Von den Orten, die in Stuttgart an den Nationalsozialismus erinnern, gibt es solche, die sehr präsent sind in der Stadt. Zum Beispiel das "Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" auf dem Stauffenbergplatz vor dem Alten Schloss in der Innenstadt, an dem täglich tausende Passant:innen vorbei gehen.

Es gibt öffentlich zugängliche, aber trotzdem viel weniger präsente Orte. Etwa die Erinnerungsstätte "Zeichen der Erinnerung" am Nordbahnhof für die von hier aus deportierten Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma. Hierhin verirrt sich kaum jemand zufällig, doch an Gedenktagen finden regelmäßig Veranstaltungen statt.

Und dann gibt es solche wie die große Skulptur "Tag und Nacht" von Bernhard Heiliger, die Ende der 1980er Jahre zum Mahnmal für die Zwangsarbeiter:innen der Firma Daimler (heute Mercedes-Benz) wurde. Sie ist schon ein paar Mal gewandert. Lange war Skulptur innerhalb des Werksgeländes versteckt (Kontext berichtete). 2018 wurde das Mahnmal immerhin an einen öffentlich zugänglichen Ort versetzt, aber einen sehr abgelegenen: am Rande eines großen Parkplatzes in der Nähe des Mercedes-Benz-Museums und des Werks Untertürkheim. Kein Ort, an dem Passant:innen vorbeikommen und innehalten, Veranstaltungen gab es dort bisher keine.

Zumindest bis vergangene Woche: Am 8. Mai, zum 80. Jahrestag des Kriegsendes, lud die IG Metall erstmals zum Mahnmal ein. Etwa 35 Gewerkschafter:innen von Mercedes-Benz kamen. In einer kurzen Rede schildert Harald Stingele von der Hotel-Silber-Initiative, was für eine enorme Bedeutung Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg für die Firma hatten, dass sie 1944 etwa die Hälfte der hier arbeitenden Menschen ausmachten – rund 5.800 – und dass ihr Einsatz für Daimler einen immensen Gewinn bedeutete, im Sinne von Profit, aber auch die guten Startbedingungen nach dem Krieg hat der heutige Mega-Konzern den damaligen Zwangsarbeitern zu verdanken.

Der 8. Mai solle ab jetzt zu einem festen Bestandteil im Kalender des Betriebsrats werden, sagt der Mercedes-Benz-Betriebsart Sven Schmiech im Anschluss, das habe auch mit Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu tun: "Denn es steht schon in unserer Satzung, dass es unsere Aufgabe als IG Metaller ist, gegen Faschismus anzugehen."

Schon diese Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Orte sein können, die an die zwölf Jahre der NS-Diktatur und deren Folgen erinnern. Alle drei – und noch 193 weitere – sind auf der neuen Website "Erinnerungsorte an die nationalsozialistische Zeit 1933 bis 1945 in Stuttgart" aufgelistet. Eine solch umfassende Dokumentation gab es bislang nicht in der Stadt, und es sei auch das erste Projekt dieser Art in Deutschland, sagen die beiden Autorinnen Beate Müller und Wilma Heucken – zumindest wissen sie von keinem vergleichbaren.

Förderung gab es keine

Aufgelistet sind Mahn- und Denkmale, Ehrenhaine, Grab- und Gedenkstätten, Steine, Stelen, Gedenktafeln. Viele dürften die meisten Stuttgarter:innen bislang nicht kennen, weil sie unscheinbar oder versteckt sind.

Beate Müller und Wilma Heuken, die all die Informationen zusammengetragen und strukturiert haben, haben einige Erfahrungen mit dem weiten Feld der Erinnerungsarbeit und -kultur: Müller hat etwa die Namen der Deportierten für die Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung" recherchiert, ab 2006 baute sie im Auftrag der Stuttgarter Jugendhaus-Gesellschaft die außerschulische Bildungseinrichtung "Lernort Geschichte" (bis 2016 Lernort Gedenkstätte) mit auf, 2016 entwickelte sie zudem gemeinsam mit Jugendlichen die Web-App "Geschichte Online / GO Stuttgart". Die Soziologin und Musikerin Heuken hatte bereits in den 1990ern beim Stadtjugendring Stadtrundgänge auf den Spuren der NS-Zeit initiiert, heute ist sie unter anderem aktiv beim Projekt "Stolperkunst". Zweieinhalb Jahre arbeiteten die beiden an der Website, für die technische Umsetzung kam am Ende noch Benjamin Schad hinzu. Alles ehrenamtlich, ohne öffentliche Zuschüsse – "wir haben das Projekt komplett selbst finanziert", sagt Müller. Der Versuch, bei der Koordinierungsstelle Erinnerungskultur des Stuttgarter Kulturamts Fördergelder zu bekommen, blieb erfolglos. Die Website hat nun die Hotel-Silber-Initiative unter ihre Fittiche genommen, die auch als Herausgeberin fungiert.

Ein Work-in-progress-Projekt

Als Beate Müller auf die Idee für das Projekt kam, ahnte sie nicht, wie umfangreich es werden würde. Ein Schlüsselmoment sei für sie vor einigen Jahren eine Veranstaltung der "Zeichen der Erinnerung"-Gedenkstätte gewesen. "Zwei Redner haben da gesagt, dass Stuttgart im Bereich des Erinnerns nichts tut, dass dies der erste Ort des Gedenkens sei", erzählt sie. "Da dachte ich mir: Was meinen die? Wenn man durch die Stadt geht, findet man doch einiges. Und deswegen wollte ich eine Bestandsaufnahme machen". Vor knapp vier Jahren, im September 2021, ging sie in den Ruhestand, "da hat man Zeit für viel Blödsinn", sagt Müller lachend. Sie nahm Heuken als Co-Autorin mit ins Boot, ab August 2022 machten sich die beiden auf die Suche.

Die Informationen mussten die beiden Frauen aus unterschiedlichsten Quellen zusammensuchen, immer wieder und auch mehrmals haben sie manche Orte besucht, um die Stelle zu finden, an der erinnert wurde.

Müller und Heuken rechneten Anfangs mit etwa 100 Orten, am Ende wurden es fast 200 – "und es sind auf jeden Fall noch nicht alle", sagt Müller. Von zehn Schulen weiß sie, dass diese eigene Erinnerungsorte haben, die noch nicht mit aufgelistet sind. Auch die von vielen Kirchen fehlen noch. Und es werden neue entstehen – im Juli etwa soll im Rathaus ein Ort entstehen, der an den NS-Oberbürgermeister Karl Strölin und den Umbau der Stadtverwaltung ab 1933 erinnert. "Das ganze ist als Work-in-progress-Projekt gedacht", sagt Müller.

Gegliedert ist die Seite zum einen nach den 23 Stuttgarter Stadtbezirken, zu denen die Orte aufgelistet werden – versehen mit kurzen Beschreibungen, Links zu weiterführenden Artikeln und zu Google Maps. Auf der Seite gibt es ein Glossar, das verschiedene Arten von Erinnerungsorten erklärt, vom Denkmal und Mahnmal über den Ehrenhain bis hin zu Gedenkstätten. Stolpersteine werden hier zwar auch erwähnt, aber die aktuell weit über 1.000 in Stuttgart verlegten tauchen nicht in der Auflistung auf – "denn sie sind auf der Homepage der Stolperstein-Initiative Stuttgart schon umfassend dokumentiert", so die Autorinnen.

Kontroverses gehört auch dazu

Aufgelistet sind auch Orte, die nicht mehr dem entsprechen, was heute in der Erinnerungskultur als angemessen gilt. Das Projekt zeige "eine Bandbreite von Erinnerungsorten in großer Widersprüchlichkeit", informiert schon die Website. "Es ist nicht so, dass uns alles gefallen hat", sagt Beate Müller. "Es gibt viele Denkmäler, vor allem die Gefallenen-Denkmäler, die fordern einen auch ganz schön."

Da gebe es etwa eines, dass sie richtig wütend gemacht hat: das Kriegerdenkmal auf dem Steigfriedhof in Bad Cannstatt. Eine nackte Männerfigur in heroischer Geste, auf die Knie gesunken, den rechten Arm mit einem Schwert zum Schlag bereit. Ein Stahlhelm auf dem Boden legt nahe, dass es ein deutscher Soldat sein soll. Errichtet wurde es 1923 und strahlt das Opfer-Pathos aus, das vielen Kriegerdenkmalen dieser Zeit zu eigen ist, auf dem Sockel ist die Inschrift "Dank u. Ehre den im Weltkrieg gefallenen Söhnen Cannstatts / 1914–1918" zu lesen. Nach 1945 wurde dahinter einfach "1939–1945" ergänzt – ohne irgendeinen weiteren Kommentar. "Wäre es nur der Erste Weltkrieg gewesen, hätten wir es nicht aufgenommen. Aber wir haben mehrfach Denkmäler, auf denen an beide Weltkriege erinnert wird."

An Zwangsarbeiter wurde erst sehr spät erinnert

Schwierige Orte wie diesen haben die Frauen dokumentiert "in der Hoffnung, dafür auch ein kritisches Bewusstsein zu schaffen. Dass sich die Leute auch damit auseinandersetzen. Dass die Leute aus den Stadtteilen sich das angucken und sagen: Das können wir doch so nicht stehen lassen." Einen solchen Umgang würde sie sich wünschen, sagt Müller, auch wenn die Diskussion auf der Website in keine Richtung gelenkt werden soll: "Wir nehmen auf der Seite keine Bewertung vor, wichtig war uns eine ganz sachliche, nüchterne Präsentation."

So offensiv das Kriegerdenkmal auf dem Cannstatter Friedhof wirkt, so unscheinbar, beiläufig und versteckt wirkt eine Tafel, die an die über 200 armenischen Zwangsarbeiter erinnert, die 1944 und 1945 auf dem Gelände des Großmarkts in Stuttgart-Wangen untergebracht waren: Sie ist unter einem Viadukt angebracht, das über die Langwiesenstraße führt – kein Ort zum Flanieren oder Verweilen. Angebracht wurde es 1999 aus Anlass des 28. Evangelischen Kirchentags in Stuttgart, die meisten Erinnerungsorte für Zwangsarbeiter entstanden erst ab der Jahrtausendwende.

Vermutlich neueren Datums – das genaue blieb bislang unermittelt – ist auch der wahrscheinlich umfassendste und inklusivste Gedenkort: Auf dem Zuffenhausener Friedhof stehen acht Quader aus Metall, an deren Seiten Inschriften an verschiedene Gruppen getöteter Menschen erinnert: Ein Quader ist "den umgekommenen Widerstandskämpfer gegen Faschismus und Krieg 1933 – 1945" gewidmet, ein anderer "den Opfern von Verfolgung und Euthanasie". Auf weiteren wird der Gefallenen, Vermissten, Flüchtlingen und Vertriebenen gedacht. Mit der Auflistung so unterschiedlicher Gedenkarten dokumentiert die Seite auch, wie sich die Erinnerungskultur im Laufe der Zeit gewandelt hat.

Dokumentation hilft gegen Ignoranz

"Wir wollen mit unserem Projekt auch in einen Dialog mit den Menschen aus den Stadtteilen steigen", sagt Wilma Heuken. Um die Einträge zu ergänzen, und um sie als Ausgangspunkt für Diskussionen zu nutzen: "Wie sinnvoll sind solche Orte? Und sind sie überhaupt noch verständlich?" Müsste etwa mehr getan werden, um den Kontext zu verdeutlichen, der sich bei vielen nur dürftig beschrifteten Orten ohne Hintergrundwissen nicht einfach erschließt?

Anknüpfungspunkte für weitere Diskussionen und Recherchen bietet die Website auf jeden Fall reichlich. Heuken findet die vielen zusammengetragenen Orte so wichtig und interessant, weil die lebenden Zeitzeugen mittlerweile so gut wie verschwunden sind: "Diese Orte sind jetzt unsere Zeitzeugen". Die Auflistung zeige, "dass es etwas gegeben hat in Stuttgart", dass die Verbrechen der Nazis auch hier stattgefunden haben – und es immer wieder Menschen gegeben hat, die sich darum kümmerten, sie nicht zu vergessen.

"Deswegen sind diese Erinnerungsorte für mich auch ein Stück weit Verteidigung der Demokratie", sagt Heuken, ein Mittel gegen die zunehmende Ignoranz gegenüber NS-Verbrechen: "Denen, die das anzweifeln, kann man zeigen: Hier ist es dokumentiert, das gab es auch hier, das hat auch die Menschen betroffen, die unmittelbar in der Nachbarschaft lebten."

Wie Erinnerungsorte belebt werden können, was für eine Bedeutung sie für die Gegenwart haben können, zeigt auch die Veranstaltung vor dem Mahnmal für die Daimler-Zwangsarbeiter. In seiner Rede beschreibt Betriebsrat Sven Schmiech, dass der Kampf gegen Faschismus, den die IG-Metall-Satzung fordere, eine aktuelle Aufgabe sei: "Ihr kriegt alle mit, was in Deutschland und in der Welt passiert", sagt er. Gerade jetzt sei es wichtig, in Diskussionen mit Kolleg:innen gehen. Und auch wenn es Schmiech nicht explizit erwähnt, liegt die Vermutung nahe, dass er sich hier auch auf die rechte Pseudo-Gewerkschaft Zentrum Automobil (ZA) bezieht, die in der Firma sehr aktiv ist (Kontext berichtete). "Diese Diskussionen sind manchmal schwierig, aber sie sind wichtig, damit wir weiter in einer Demokratie leben".


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