Es sei kein wirklich authentischer Ort mehr, "die Umgebung, die Höhe, alles ist anders", sagt Paula Lutum-Lenger, Direktorin des Hauses der Geschichte (HdG) Baden-Württemberg. Deswegen habe man sich auch entschieden, den Erinnerungsort für die Opfer der NS-Justiz nicht hier, sondern vor dem Eingang des Landgerichtsgebäudes zu platzieren. Doch der Ort ist offenbar authentisch genug, dass Stoessel, als er gefragt wird, nicht zur einstigen Hinrichtungsstätte gehen will; es scheint ihn emotional zu sehr zu berühren.
Auch André Perreau war noch sehr klein, fünf Jahre alt, als er seinen Vater zum letzten Mal sah. Am Nachmittag des 7. März 2019 stehen Perreau und Stoessel nun, beide mittlerweile 80-jährig, vor dem Landgericht Stuttgart, neben dem neuen Erinnerungsort mit den drei Stelen, sie wirken beide etwas aufgekratzt. Und gut zwei Stunden später, als sie im Haus der Geschichte kurze Reden halten, da sagen beide fast wortgleich: "Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal hierher kommen und eine Rede halten würde." Beiden wird bei diesen Worten die Stimme brüchig.
Auf drei Stelen stehen die Namen der 423 hier Hingerichteten
Ihre Väter. Zwei von mindestens 423 Menschen, deren Leben zwischen 1933 und 1944 hier das Fallbeil beendete. Und an die bis vor Kurzem nichts erinnerte außer eine sehr allgemein gehaltene, fast versteckte Inschrift: "Den Opfern der Justiz im Nationalsozialismus zum Gedenken. Hunderte wurden hier im Innenhof hingerichtet. Den Lebenden zur Mahnung."
Nach jahrelangem Kampf um ein angemesseneres Gedenken (Kontext berichtete) wurden am 28. Januar nun eine Ausstellung zur NS-Justiz im Landgerichtsgebäude eröffnet und vor dessen Eingang drei Stelen enthüllt, auf denen, gegliedert nach Hinrichtungsdatum, die Namen aller hier während der NS-Zeit hingerichteten Personen stehen: mit Alter zu diesem Zeitpunkt, Beruf, zur Last gelegtem Delikt und dem Gericht, das sie verurteilte. Und so ist unter "19. Juni 1943" zu lesen: Marcel Stoessel, 38, Kranführer, Politisches Delikt, Volksgerichtshof. Und unter "19. April 1944": Maxime Perreau, 34, Schlosser, Politisches Delikt, Gericht der Feldkommandatur 669 Dijon.
2 Kommentare verfügbar
D. Hartmann
am 13.03.2019"Erst in den 1990ern setzte sich allmählich eine andere Rechtsauffassung durch."
"Durchsetzen", selbst durch "allmählich" abgeschwächt, passt hier nicht wirklich. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass noch 2012 die Staatsanwaltschaft Stuttgart Verfahren gegen NS-Verbrecher mit juristisch mehr als zweifelhafter Begründung einstellte. Die Rolle des damaligen Oberstaatsanwalts, Bernhard Häußler, wäre mal wieder einen Artikel in Kontext wert, oder?
Noch ein interessantes Detail:
"Oberster Chef" des Herrn Häußler war damals Justizminister Rainer Stickelberger (SPD). Er verzichtete auf eine Weisung an die Staatsanwaltschaft Stuttgart und billigte damit schlussendlich die Einstellung der Verfahren gegen Mörder der Waffen-SS.
Weiterführende Artikel:
https://de.wikipedia.org/wiki/Sant%E2%80%99Anna_di_Stazzema
https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_H%C3%A4u%C3%9Fler
Josef Tura
am 19.03.2019