An einem Samstag im Februar sitzt Till auf einem Baum im Esslinger Wald, ein paar Kilometer von Stuttgart entfernt, und hat die Welt bezwungen, die ihm lange viel zu groß war. Er zieht ein winziges Buch aus einer Plastikdose, die mit blauem Schraubverschluss an einem Zweig hängt, und trägt seinen Nickname und das Datum ein: Lemmer, 23. 2. 2014. "Prima", sagt er bescheiden. Dann grinst er, macht ein Foto von sich zwischen Ästen und Blättern und klettert den Baum hinunter. Für diesen Eintrag ist er einmal um die Welt geflogen. Er ist der jüngste Sieg von einem, der kleine Schätze sucht, um sich selbst zu finden.
Am 3. Mai 2000, als Till das erste Mal im Gefängnis saß, reduzierte das US-Militär die Verrauschung von GPS-Signalen für die private Nutzung von 100 Meter auf nur 10. Und während Till am Tag darauf seinen Eltern ein verzweifeltes "Holt mich hier raus!" aus einer Stammheimer Sammelzelle schrieb, versteckte einer am anderen Ende der Welt einen schwarzen Behälter im Wald nahe der South Fellows Road, 26 Meilen von Portland, Oregon, entfernt, und veröffentlichte die Koordinaten im Internet: N 45° 17.460 W 122° 24.800 – fünfundvierzig Grad, siebzehn Minuten und vierhundertsechzig Sekunden nördlicher Breite, hundertzweiundzwanzig Grad, vierundzwanzig Minuten und achthundert Sekunden westlicher Länge. Das war der Anfang einer weltweiten GPS-gesteuerten Schnitzeljagd. Mittlerweile gibt es sechs Millionen Geocacher rund um den Globus. Till ist mit 26 000 Funden einer der 200 besten weltweit. Es ist seine letzte Therapie. Seine Lebensaufgabe.
Till ist groß und blond, ein schlanker Mann von 38 Jahren. Er sieht ein bisschen verlebt aus, weil jeder Schuss, jedes Gramm Koks und jeder Diebstahl Spuren in sein Gesicht gezeichnet haben. 15 Jahre lang war er drogenabhängig. Als er nach vielen Jahren endlich clean war, wurde er Alkoholiker. Dreimal war er im Gefängnis, viermal in Langzeittherapie, er hat Entgiftungen gemacht, wie andere Leute einkaufen gehen. Es war ein grelles, schwarzes Leben, ein ständiges Scheitern. Kein Mensch hatte geglaubt, dass er jemals den Weg zurückfinden würde, er hatte irgendwann in seinem Chaos und seiner Finsternis die Orientierung verloren.
Als er schließlich doch ans Licht gekrochen kam, roh und leer, nachdem ihm Dutzende Therapeuten das fiese Selbst vom guten Kern gekratzt hatten, lag vor ihm eine viel zu große Welt voller Gefahren. Bisher hatte sich jeder seiner neu erlernten Wege doch immer wieder verzweigt und ihn in dieselben alten Abgründe zurückgeführt.
Unterwegs auf sicheren Pfaden
Tills neues Leben beginnt an einem Mittwoch im Juli 2009 mit einem nagelneuen GPS-Gerät und dem Geocache GC1FMDW. Er ist ein grünes Symbol auf der Landkarte der Internet-Seite Geocaching.com, das aussieht wie eine winzige Schüssel.
8 Kommentare verfügbar
noch ein Cacher
am 23.03.2015Dieser sehr schön geschriebene Artikel beschreibt nicht nur eine außergewöhnliche Cachergeschichte, sondern auch dieses schöne…