Der gelernte Rechtsanwalt, der seine Kindheit als behütet beschreibt ("Ich hatte wirklich Glück"), punktete damals insbesondere beim Parteinachwuchs mit Anleihen bei der noch in den Kinderschuhen steckenden Öko-Bewegung. 1984 bejubelte die JU-Basis Oettingers Forderung, den Umweltschutz im Grundgesetz zu verankern. Als der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) im Nachgang zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986, und weil sich die Grünen im Landtag festgesetzt hatten, ein Umweltministerium einrichtete, forderte der Jungspund dafür ein Vetorecht als "dringend notwendige Notbremse" gegenüber den anderen Ressorts. Er outete sich als Tempo-30-Fan und mahnte Autofahrer:innen zur Selbstbeschränkung: "Gerade eine wohlhabende Gesellschaft kann sich trotz ihres Wohlstands angesichts der Enge des Raums nicht alles erlauben." Der Individualverkehr müsse gelenkt und beschränkt werden. "Wir haben Herbert Gruhl in unseren Reihen gehabt", sagt er im Kontext-Gespräch mit Blick auf den legendären Parteifreund und Grün-Sympathisanten, "und nicht auf ihn gehört." Sogar in der ähnlich heiklen Bildungspolitik verlangte Oettinger bald nach seinem Einzug in den Landtag 1984, "alte Zöpfe abzuschneiden". So warb er dafür, Haupt- und Realschulen zusammenzulegen und das dreigliedrige Schulsystem nicht zum Dogma zu erklären.
Aus solch progressiver Perspektive sind die späten Achtziger und die Neunziger eine Reihe vertaner Chancen für Baden-Württemberg. Die schleichende Rückbesinnung auf deutlich konservativere Positionen beginnt während der Großen Koalition mit der SPD ("Das war knallhart, aber fair") zwischen 1992 und 1996, als die CDU aus Profilierungsgründen an vorhandenen Strukturen meinte festhalten zu müssen. Am Ende zogen die rechten "Republikaner" zum zweiten Mal in den Landtag ein.
Teufel und Oettinger mochten sich nicht
Zwei Mal wollte Oettinger Oberbürgermeister in Ditzingen werden, was misslang. Einen Wechsel in die Bundespolitik schlug er selber aus. Dank "boulevardesker Stilbrüche" (Tagesspiegel) brachte er es dennoch immer wieder sogar in die Hauptstadtpresse, zum Beispiel, weil er den Verbindungen seines Stuttgarter Stamm-Italieners zur Mafia, genauer ‘Ndrangheta und dem berüchtigten Farao-Marincola-Clan, lange nichts bemerkt haben wollte. Der inzwischen zu langen Haftstrafen verurteilte Mario Lavarato richtete sogar zumindest ein großes Fest der CDU-Landtagsfraktion aus.
Bevor er als deren Langzeitchef anno 2005 endlich den Aufstieg zum Ministerpräsidenten schaffte, gab es für den "Landespolitiker aus Leidenschaft" eine zähe Durststrecke auszuhalten. "Bitte warten", lautete in seinen und den Augen seiner Fans viel zu lange die Devise des Partei-Establishments um Erwin Teufel (CDU). Der Titel "Prinz Charles der Landespolitik" grassierte in der Politszene, weil der Ministerpräsident einfach nicht weichen wollte, den Rückzug sogar "der Güte Gottes überlassen wollte". Dann allerdings hielt Teufel vor zwanzig Jahren, zu Oettingers Fünfzigstem, eine fulminant warmherzige Laudatio im Stuttgarter Römerkastell vor 500 Gästen, die den Eindruck mitnahmen, Amtsinhaber und Kronprätendent seien nun endlich ein Herz und eine Seele.
Der Auftritt jedoch war allein dem Anlass geschuldet. Zum Geburtstag sage man einfach nichts Schlechtes, sollte Teufel später erklären. Und bei anderer Gelegenheit: dass er dem Möchtegern-Nachfolger und seiner Truppe unter anderem wegen ihres Machthungers die Eignung für das höchste Amt im Lande mitnichten zutraue. Im daraus resultierenden Mitgliederentscheid über die CDU-Spitzenkandidatur für die Landtagswahl 2006, in dem Annette Schavan mit schlussendlich 40 zu 60 Prozent gegenüber Oettinger unterlag, kämpften die Anhänger des Ditzingers mit harten Bandagen. Auch deshalb zerfiel der Landesverband über Jahre in zwei Lager, wobei Persönliches eine Haupt- und Politik oder Ideologie nur eine Nebenrolle spielten. Diese Spaltung ist mit ein wesentlicher Grund für die grüne Dominanz seit 2011.
Die Kosten für S 21 waren ihm egal
Die knapp fünf Jahre Zeit als Ministerpräsident von 2005 bis 2010 waren mitgeprägt von Schuldenbremse und einem ersten schuldenfreien Landeshaushalt seit vielen Jahren – für all jene, die Selbiges unter der Überschrift "Erfolge" verbuchen möchten. Schon gar nicht auf dieser Waagschale liegt das unreflektierte Festhalten an Stuttgart 21. Die Finanzierungsvereinbarung zur Kostenaufteilung zwischen Bahn, Land, Stadt und Region Stuttgart war das Papier von Anfang an nicht wert. "Ein Aktenfresser par excellence", wie die SZ einmal Oettingers "emsige Seite" lobte, hätte sich nicht wegducken dürfen vor den längst durch die Projektgegner:innen belastbar belegten Mehrkosten.
Noch unrühmlicher der Anlass für den Abgang: Als Oettinger zur Trauerfeier von Hans Filbinger (CDU) im April 2009 in Freiburg unreflektiert die Rede vortrug, die von einem bewundernden Kenner des Ex-Ministerpräsidenten im Staatsministerium verfasst worden war, dabei dem ehemaligen NS-Marinerichter sogar folgte in der Selbstbeschreibung, er sei Widerstandskämpfer gewesen. Verbissen verweigerte Oettinger eine Entschuldigung: "Meine Rede war öffentlich, ernst gemeint, und die bleibt so stehen". Erst nach fünf Tagen die Distanzierung. Ein halbes Jahr später dann das Aus, Angela Merkel nötigte ihn zum Abgang nach Brüssel. Als EU-Kommissar reüssierte er, die Englisch-Ausrutscher zum Auftakt mal bei Seite gelassen, durchaus. Auf dem europäischen Parkett kamen seine im eigenen Lager so gern als Pluspunkte gerühmten Eigenschaften erst recht zur Geltung: die rasche Auffassungsgabe, die bis ins Detail gehende Sachkenntnis, das ewig juvenile Auftreten, der Hang zu herzhaftem Lachen, zu langen Abenden und manchmal reichlich flotten Sprüchen, die aber – mal trotzdem und mal deshalb – fast immer ihr Publikum finden.
Mit Oettinger auf Platz eins?
Wenn er heute in der Heimat auftritt, fliegen ihm CDU-Herzen wieder zu, im kleinen Kreis wie auf Bezirksparteitagen. Viele fühlen sich, wenn sie das Stakkato des Rastlosen hören, zurückversetzt in die guten alten Zeiten schwarzer Vorherrschaft. Längst verziehen sind diverse Fehltritte, und dass er anno 2006 nach der Landtagswahl nicht mutig genug war, seiner Zeit ziemlich weit vorauszueilen und eine schwarz-grüne Koalition zu zimmern, ist fast vergessen. Winfried Kretschmann wäre dann sein Vize geworden - und Oettingers Schwarze womöglich auf Jahre hinaus die Schmach des Machtverlusts erspart geblieben. Er hätte gut mit dem Grünen gekonnt, sagt er im Rückblick, aber die Zeit sei eben nicht reif gewesen, und dass "wer was macht, Fehler macht", während wer nichts mache, "macht nichts falsch oder alles".
Oettinger nimmt für sich in Anspruch, weiter mitten im Leben zu stehen. Als Redner oder Ratgeber dränge er sich nicht auf, komme aber gerne, wenn er gefragt werde. Er betreibt eine Unternehmensberatung mit "Spezialthema Fördermittelbeschaffung und Gründerchoaching". Das Engagement im Innovationsbeirat von Victor Orbán, für das er vielfach Kopfschütteln geerntet hat, kam übrigens nie zustande, unter anderem wegen Corona. Aber: "Wenn ich gefragt würde, würde ich nach Budapest fliegen", bekennt er in der ihm eigenen Offenheit.
Die trägt ihn auch durch den Abend bei den Rotariern im Württembergischen Automobilclub. Am Ende kann er die Erfahrung mitnehmen, wieder mal einiges richtig gemacht zu haben mit seiner Philippika wider diesen Zeitgeist mit work-life-balance und home office, auf diese Trägheit, diese Bedeutung des Golfhandicapsauf der Halbhöhe. Die Stimmung kippt da nicht, im Gegenteil viel Applaus, Schulterklopfen, das eine oder andere Selfie. Einer will wissen, ob er nicht doch noch einmal zur Landtagswahl antreten könnte, da doch Joe Biden deutlich älter sei. Der Grund liege doch auf der Hand, sagt ein anderer, und die Umstehenden nicken: "Mit Oettinger hätten wir die besten Chancen auf Platz eins".
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roland lauster
am 16.10.2023