Doch nun führte der Prozess, den der Ministerpräsident anstrengte, zu Recherchen im Bundesarchiv, und so wurde im Mai 1978 der Fall des wegen "Fahnenflucht" zum Tode verurteilten Matrosen Walter Gröger bekannt, dessen Hinrichtung Filbinger im März 1945 mit Nachdruck vorangetrieben hatte – allerdings nicht als Richter, sondern als Anklagevertreter. In den Wochen danach kamen zwei Todesurteile ans Tageslicht, die er als Marinerichter gefällt hatte, und zwei, an denen er als Anklagevertreter beteiligt war.
Von diesen Urteilen war zwar keines vollstreckt worden, weil die Angeklagten fliehen konnten oder begnadigt wurden. Doch noch kurz vor Bekanntwerden dieser Fälle hatte Filbinger behauptet, es gebe kein einziges Todesurteil, "das ich in der Eigenschaft als Richter gesprochen hätte". Nun erklärte er, er hätte die Urteile "wegen Belanglosigkeit" vergessen, und stand entweder als Lügner da oder als Mann, der Todesurteile vergisst. Die Salamitaktik kostete ihn auch parteiintern Unterstützung. Am 7. August 1978 trat Filbinger von seinem Amt als Ministerpräsident zurück.
War Filbinger ein Nazi? Auf jeden Fall funktionierte er
Wenn Oettinger in seiner Trauerrede Jahrzehnte später sagte, "es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte", dann ist das also nicht falsch. Aber eine zynische Spitzfindigkeit. Denn dass die von Filbinger gefällten Todesurteile nicht vollstreckt wurden, lag eben nicht an ihm. Ohne seinen Eifer als Anklagevertreter wiederum wäre der Matrose Gröger vermutlich nicht hingerichtet worden.
Aber war der Katholik Filbinger nun ein Nazi oder, wie Oettinger vortrug, ein "Gegner des Nationalsozialismus"? Letzteres ist vor allem eine Behauptung Filbingers selbst, der sich in seinen Memoiren sogar Verbindungen zu Widerstandskreisen zuschrieb – historisch unbestätigt. Überliefert hingegen ist ein juristischer Aufsatz Filbingers von 1935, in dem er in aufdringlichem NS-Vokabular darüber schreibt, wie die "Blutsgemeinschaft rein erhalten" werden könne. Er habe, damals noch als Student, nur Ansichten seines Lehrers referiert, entschuldigte Filbinger dies.
Aus welcher Motivation auch immer, Filbinger war ein zuverlässig funktionierendes Glied einer "Terrorjustiz" – als solche wurde die gesamte NS-Militärjustiz 1995 vom Bundesgerichtshof bezeichnet –, die die Vorgaben des Regimes in ihrer Rechtsprechung umsetzte und eben kein ideologiefreier Raum blieb.
Apologie der eigenen Vergangenheit
Seinen Rücktritt verarbeitete Hans Filbinger in gewissem Sinne produktiv: Er gründete rund ein Jahr danach das Studienzentrum Weikersheim (SWZ), gedacht als christlich-konservative Denkfabrik, und, so Filbinger, als "Antwort auf die sogenannte Kulturrevolution aus den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts". Einer Kulturrevolution, deren Eindringen in den gesellschaftlichen Konsens ihn aus seiner Sicht das Amt gekostet hatte. Insofern mag schon die Motivation zur Gründung des SZW die einer Apologie der eigenen Vergangenheit gewesen sein.
Wenn auch gelegentlich Politiker der SPD wie Gerhard Schröder (noch als Juso-Vorsitzender) oder der Grünen zu Tagungen des SWZ kamen, dauerte es nicht lange, bis das Studienzentrum bekannt dafür wurde, Zeitgenossen bräunlicher Gesinnung anzuziehen. So wurde 1989 öffentlich, dass mit Rolf Schlierer der damalige Sprecher der Republikaner im Kuratorium saß, und dass viele NPD-Mitglieder, so jedenfalls deren damaliger baden-württembergischer Landesvorsitzender Jürgen Schützinger, sich immer wieder der "wertvollen Seminare" des Studienzentrums bedienten. Gleichwohl waren bis und einschließlich Oettinger alle CDU-Ministerpräsidenten im Südwesten Mitglieder des SZW.
4 Kommentare verfügbar
Rolf Schmid
am 30.03.2017