Der 63-Jährige ist die Inkarnation seiner Kaste, ein emsiger Vollblutpolitiker, der Ausrutscher und Entgleisungen zu Ecken und Kanten stilisiert, irgendwie aber zugleich ausgestattet ist mit den magischen Kräften jenes langnasigen Kasperles, als den ihn viele Karikaturisten seit Jahren darstellen: hinfallen, aufstehen, schütteln, weitermachen. Ein Spruchbeutel? Ein möglicher Kanzlerkandidat, wie gerade noch von fantasiebegabten CDUlern geraunt wurde? Oder gar ein "begnadeter Querdenker", wozu ihn erst kürzlich Markus Feldenkirchen im "Spiegel" stilisierte, dessen "helle Stimme" gefehlt habe und dessen Comeback überfällig sei?
Jedenfalls soll Günther Oettinger ("We are all sitting in one boat") am 1. Januar 2017 aufrücken in den engsten Führungszirkel der Europäischen Gemeinschaft, als Haushaltskommissar und Vize-Kommissionspräsident mit weitreichenden Zuständigkeiten in den anstehenden "Brexit"-Verhandlungen. Denn, so urteilt der Freiburger Politologe Ulrich Eith, die Rede vor Hamburger Unternehmern – die Sache mit den "Schlitzaugen" – werde "nicht ausreichen, das Ende seiner Karriere einzuläuten". Aber sie belege, dass er in einer Zeit, in der für Rechtspopulisten der Tabubruch zum politischen Alltag gehört, "seiner Verantwortung nicht gerecht" geworden sei. Diese Messlatte sei gerissen.
Die Kanzlerin stellte ihm die Rute ins Fenster
Wie damals im April vor bald zehn Jahren. 13 Ordner füllt Oettingers Wirken im Archiv des baden-württembergischen Landtags inzwischen. Einer davon ist allein den ersten vier Wochen der Filbinger-Affäre gewidmet. Ende März 2007 war die Welt zwischen Main und Bodensee noch leidlich in Ordnung, da wollte der Ministerpräsident in der selbst verordneten Allzuständigkeit noch erreichen, dass John Travolta wegen seiner Scientology-Mitgliedschaft von einer "Wetten, dass ...?"-Sendung in Freiburg ausgeladen wurde. Wenige Tage später nannte er seinen Vorvorgänger einen "Gegner des Naziregimes", der sich den Zwängen des Regimes ebenso wenig habe entziehen können wie Millionen andere. Dem Sturm der Entrüstung wollte er trotzen, war zur Entschuldigung nicht bereit, bis ihm die Kanzlerin die Rute ins Fenster stellte. Später wird er beteuern, wie viel er gelernt habe in dieser Zeit, dass er seine Worte seither "besonders zu wägen weiß" und dass er sich "bestimmte Aussagen" künftig verkneifen werde.
11 Kommentare verfügbar
Rolf Steiner
am 06.11.2016