Bei der Eröffnung des Werks, natürlich an der Autobahn, machte Daimler-Produktionsvorstand Wolfgang Bernhard öffentlich, dass der Unterschied satte 70 Prozent ausmacht. Details blieben unter Verschluss. Die deutsch-ungarische Handelskammer ging vor zehn Jahren von einem Arbeiter-Jahresgehalt von unter 9.000 Euro aus und für Fachkräfte unter 16.000. Zugleich zeigte eine Studie, dass viele Alltagsprodukte oder Benzin kaum billiger waren als in Deutschland.
Immer wieder allerdings kommen ausländische Investoren unter Druck. Sondersteuern werden verordnet, Orbán liebäugelt immer wieder mit Enteignungen und verfällt auf skurrile Ideen, um die traditionell leeren Kassen zu füllen. Als Gegenleistung für den Kauf von Staatsanleihen im Wert von 250.000 Euro wollte er ohne Ansehen der Person die ungarische Staatsbürgerschaft verkaufen, bis die EU ihn stoppte.
Die Ausschaltung des Parlaments durch die Zweidrittelmehrheit von Orbáns Fidesz-Partei – ein einziger Abgeordneter brachte den Mut zum Nein auf – ist allerdings von anderer, ganz neuer Qualität. Das Machtnetzwerk des Alleinherrschers übersteigt alles bisher in einer parlamentarischen Demokratie Dagewesene. Theoretisch hätte Staatspräsident Janos Ader dem Ermächtigungsgesetzespaket seine Unterschrift verweigern können. Aber auch er gehört zum Kreis der engen Orbán-Vertrauten, die inzwischen an allen Schaltstellen sitzen. Und JournalistInnen werden mit mehrjährigen Haftstrafen bedroht, wenn sie schreiben und senden, was von oben als fake news verunglimpft wird. "Jetzt ist dem letzten Fünkchen Pressefreiheit das Licht ausgegangen", klagt der in Budapest geborene Publizist Paul Lendvai. Im österreichischen Fernsehen zitiert er wörtlich aus Orbáns Radio-Ansprache vom vergangenen Freitag: "Zu den lebenswichtigen Firmen habe ich Militärstäbe beordert. Falls die Übernahme der Aufsicht oder die Leitung notwendig werden sollte, dann müssen dort Polizisten und Soldaten bei der Hand sein."
Nach derartigen Äußerungen sieht sich Oettinger erst recht gegenüber Unternehmen wie Bosch und Daimler oder Audi in Györ verpflichtet. Das dicke Ende kommt, wenn WissenschaftlerInnen in und vor allem außerhalb Ungarns zu dem Ergebnis kommen, das Land habe die Pandemie im Griff. Denn dann müsste die Notverordnung wieder aufgehoben werden.
Hoffen auf Vernunft
"Die Chancen", sagt nicht nur Lendvai, "sind aber schlecht." Denn: 2022 steht die Wiederwahl des Staatschefs an, dem nicht entgangen ist, dass sein Stern im Volk sinkt. Das zeigten die Kommunalwahlen 2019, als die Hauptstadt an Gergely Karácsony fiel, den erst 35-jährigen Kandidaten der mitte-links-grünen Opposition. Günther Oettinger stellt zwar fest, dass sich in Europa die Machtverhältnisse von der Legislative wegbewegen hin zur Exekutive – "wie auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, zu beobachten ist, wo der Präsident sogar von Krieg spricht". Aber er hofft auf Vernunft und auf die Rückkehr zur Kontrolle der Regierung durch das Parlament, wie das eben elementar ist für eine Demokratie. Und wenn nicht? "Dann muss neu entschieden werden." Spätestens dann wird er sich den Vorwürfen stellen müssen, doch nicht mehr als ein Feigenblatt zu sein.
Die bisher einzige offizielle Reaktion von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist jedenfalls regelrecht desaströs. In ihrem täglichen Video philosphiert sie über die Bedeutung von Vitaminen, und ihr Sprecher präsentiert später eine schwammige Erklärung, in der Ungarn nicht einmal namentlich erwähnt wird. Ein Schelm, der Böses dabei denkt! Die frühere Verteidigungsministerin war bei ihrer Wahl in Brüssel auf die Fidesz-Stimmen angewiesen.
In den bewegten Wochen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war Erwin Teufel, noch als Fraktionschef, vor ziemlich genau drei Jahrzehnten nach Budapest gereist, auch um sich mit den Vertretern der neuen bürgerlichen Opposition noch in deren Notquartier aus den Tagen des Untergrunds zu treffen. Er wolle, so Oettingers Vorgänger, mit dem sofortigen Besuch "die Rückkehr des Landes nach Europa" unterstreichen. Zu dessen Geist habe sich "Ungarn immer zugehörig gefühlt und sich selbst unter der Diktatur nicht davon verabschiedet". In der kommunistischen Diktatur nicht, in der gelenkten Demokratie stirbt die Hoffnung zuletzt. Wie heißt es in den letzten Zeilen der zu Herzen gehenden ungarischen Nationalhymne: Dieses Volk hat schon gebüßt. Für Vergangenes und Kommendes.
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Rolf
am 01.04.2020