Es gibt viele Gründe, warum dieser Mesalliance jeder Vorbildcharakter fehlt. Da kann die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ("Ich zähle auf Euch") den alten und neuen Bundeskanzler Sebastian Kurz noch so ancharmieren als "Brückenbauer zu den östlichen Mitgliedstaaten". Oder bürgerliche Blätter den "Wiener Balanceakt" (FAZ) noch so durchsichtig loben. Denn der türkis-grünen Koalition in Wien liegt ein schwerer Konstruktionsfehler zugrunde, der den kleineren Partner noch teuer zu stehen kommen wird.
Die österreichischen Ökos, 1986 aus zwei Gruppierungen zur Grünen Alternative vereinigt, waren bei der von Sebastian Kurz mutwillig herbeigeführten vorgezogenen Nationalratswahl 2017 aus dem Parlament geflogen. Zwei Jahre später und angesichts der inzwischen immerwährenden Klimadebatte, dank der Fridays-for-Future-Bewegung, haben sie verabsäumt, den triumphalen Wiedereinzug mit fast 14 Prozent zu einer klaren Botschaft zu nutzen. Die hätte dann eher das Zeug zum europäischen Modell gehabt: Der Kampf gegen die Erderwärmung und alle damit verbundenen Anstrengungen hätten vor die Klammer gezogen werden müssen, um sie ein für alle Mal allen Gegengeschäften in Koalitionsverhandlungen zu entziehen.
Passiert ist in Wien genau das Gegenteil. Der ÖVP-Bundesvorsitzende, schon vor seinem 37-Prozent- Wahlsieg in seiner Partei praktisch Alleinherrscher, rühmt, wie mit diesem Bündnis "das Beste aus beiden Welten" zusammengeführt worden sei. Auf diese Weise könnten das Klima und die Grenzen geschützt werden. "Hier wird die Strategie der Vermengung betrieben", schreibt Natascha Strobl von www.moment.at. Und dies diene dazu, "ein unliebsames Thema populär zu machen oder ein beliebtes Thema mit einem eigenen zu koppeln und so für sich zu beanspruchen".
Österreichs Grüne finden sich an Orbáns Seite wieder
Die Grünen hatten weder Wege gefunden, diese Art Schräglage grundsätzlich zu verhindern, noch konnten sie sich in einzelnen brisanten Fragen durchsetzen. Und so finden sie sich folgerichtig keine Woche nach der historischen Vereidigung der vier MinisterInnen und einer Staatssekretärin an der Seite von Trump und Orbán wieder. Jedenfalls war das ihre ureigenste Einschätzung der Verhältnisse Ende 2018 in der außerparlamentarischen Opposition, als Österreich dem vom Bundeskanzler auch noch höchstpersönlich mit ausverhandelten UN-Migrationspakt doch nicht beitrat. Da wussten die Grünen noch ganz genau, dass Kurz den RechtspopulistInnen der FPÖ nachgegeben hatte. Alma Zadic, heute Justizministerin, brachte Trump und Orbán und sogar die Identitäre Bewegung ins Spiel, deren Agenda die Regierung umsetze.
Heute müssen sie und ihre KollegInnen tatenlos zusehen, wie der Kanzler nahtlos anschließt an seine Politik mit der FPÖ. Am vergangenen Sonntag überraschte Außenminister Alexander Schallenberg, parteilos, aber auf ÖVP-Ticket, mit der Mitteilung, es werde weiterhin keinen Betritt zu dem von 152 Staaten unterzeichneten Pakt geben. Denn der fördere nur das Geschäft der Schlepper. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler hatte dieselbe Aussage noch vor gut einem Jahr als direkt "aus der Trollfabrik" abgekanzelt. Jetzt bleibt der neuen Fraktionschefin im Nationalrat Sigrid Maurer allein ein kleinlautes "Das ist nicht unsere Position." Für die gebe es keine Mehrheiten, und mit der ÖVP sei es bei den Koalitionsverhandlungen nicht möglich gewesen, "die Unterzeichnung zu paktieren".
Nur zur Erinnerung: Die vor der Vollversammlung 2018 vom UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR vorgelegte Statistik hatte eklatante Missverhältnisse widergespiegelt. Denn von den 28,5 Millionen Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten mussten, beherbergten damals Entwicklungs- oder Schwellenländer 85 Prozent. Die EU nahm 3,7 Millionen Flüchtlinge auf. Zum Vergleich: allein die Türkei 3,8 Millionen.
Im Koalitionsvertrag üppig unverbindliche Prosa
Auch an dem als "Resettlement" bekannten Aufnahmeprogramm will sich das türkis-grüne Österreich weiterhin nicht beteiligen. Begründen darf Schallenberg, Vater von vier Kindern, dies mit der im Regierungsprogramm angekündigten Erhöhung der Gelder für Entwicklungszusammenarbeit als "wesentliches Vehikel" zur Vorbeugung von Migration. Hier wolle er ein "Plus" erzielen. Er will, aber er muss nicht. Denn diese Passage im Koalitionsvertrag gehört nicht einmal mehr zur ohnehin üppigen unverbindlichen Prosa, sondern ist eine derbe Provokation: Das seit vier Jahrzehnten geltende 0,7-Prozent-Ziel wurde nie erfüllt; die erste Regierung von ÖVP/FPÖ unter Kanzler Kurz verfehlte es mit 0,38 Prozent so drastisch wie nie zuvor. Sogar die Erzdiözese Wien schloss sich 2018 einem Appell ans Bundeskanzleramt an, "rettend" einzuspringen. Nichts Konkretes in die richtige Richtung geschah, erst recht nicht in den Koalitionsverhandlungen mit den Grünen.
Dafür ist Hochproblematisches im Detail ausformuliert. Unvorstellbar in Deutschland – kein Wunder, dass Robert Habeck bereits auf Distanz geht –, hält der übermächtige Koalitionspartner bis auf die Umwelt sämtliche Schlüsselressorts. Der Gipfel allerdings ist die Lizenz zum Fremdgehen, die sich Kurz hat ausstellen lassen. "Echtes Novum für Österreich", twittert Armin Wolf, der renommierte Fernsehmoderator und ORF-Anchorman, "die ÖVP kann strengere Asylgesetze auch mit der FPÖ beschließen, wenn die Grünen dagegen sind."
Nachzulesen ist dieses höchst bemerkenswerte Novum auf Seite 200 im Regierungsübereinkommen unter der Überschrift "Modus zur Lösung von Krisen im Bereich Migration und Asyl". Sollte hier keine Einigung "hergestellt werden, so ist jener Koalitionspartner berechtigt, sein Gesetzesvorhaben im Nationalrat als Initiativantrag einzubringen". Dort darf sich die ÖVP dann eine parlamentarische Mehrheit jenseits der Grünen, also mit der FPÖ suchen, ohne dass die Regierung deswegen platzt. Notabene: Dieses Recht garantiert der Koalitionsvertrag exklusiv der ÖVP.
Wie viele Kröten schluckt ein Alpen-Grüner?
Seit viele Details des 326 Seiten starken Abkommens öffentlich sind, treibt viele KennerInnen der Szene nicht nur in Österreich die Frage um, ob der Vizekanzler als komplett überforderter Verhandler und düpierter Partner aus dem türkisen Experiment gehen wird oder als gewiefter Stratege, der genau wusste, wie viele Kröten es im Interesse der Partei zu schlucken galt. Werner Kogler ist Gründungs-Grüner aus der Steiermark, ein studierter Ökonom, der vor zehn Jahren ein 100-Prozent-Ergebnis bei der Wahl zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden einfuhr. Und eben erst gut 93 Prozent für einen Koalitionsvertrag, in dem alle grünen Kernanliegen eher grob skizziert sind: "Österreich positioniert sich konsequent in der Gruppe der Klimaschutzvorreiter in Europa und verfolgt eine energiepolitische Orientierung an erneuerbaren Energien und Klimaschutz." Oder: "Neubau im Niedrigstenergiehaus-Standard, PV-Anlage verpflichtend, wo technisch und wirtschaftlich möglich." Auch die Einsetzung einer Taskforce zur Erarbeitung einer ökosozialen Steuerreform kommt vor – allerdings hat sie Zeit bis 2022.
Dann bliebe in der vierjährigen Legislaturperiode nach den Gesetzen des politischen Betriebs und bis zum Beginn des nächsten Wahlkampfs gerade noch ein Jahr für Verabschiedung und Einstieg. Voraussetzung ist allerdings, dass die Regierung dann noch existiert. Einen Trumpf immerhin hält Kogler in seiner risikoreichen Experimentierfreude in der Hand: Ein weiteres vorzeitiges Regierungsende wäre nach dem vor Ibiza gekenterten Schiff mit den Kapitänen Kurz und H.C. Strache vermutlich die finale Entzauberung des Wunderknaben im Kanzleramt.
Einen ersten Fingerzeig, wie die Verzwergung ankommt, die die Grünen auf sich genommen haben, um die FPÖ von der Regierung fern zu halten, dem Land eine gewisse Stabilität zu geben und das eigene Bedürfnis nach Macht auf der Bundesebene zu stillen, gibt es schon bald. Am 26. Januar wählt das Burgenland, das östlichste und mit knapp 300.000 EinwohnerInnen kleinste Bundesland. Und das einzige, in dem eine gebeutelte SPÖ mit der FPÖ regiert. Nach jüngsten Umfragen können die Grünen mit einem kaum rechnen: mit sattem Stimmenplus und einer weiteren Regierungsoption mit den türkis-schwarzen FreundInnen.
1 Kommentar verfügbar
Critic
am 16.01.2020als gebürtige Österreicherin und seit vielen Jahren in Deutschland lebend, überkommt mich das Grausen, wenn ich die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und den Grünen zur Kenntnis nehmen muss.
Wenn unsere deutschen Grünen, die ja auch hierzulande, und sei es zusammen mit…