Das Plazet zeigt, wie das von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eingeführte und in der Theorie hochgelobte "Abklingbecken" in der Praxis reichlich Fragezeichen aufwirft. Die Karenzzeit, die abgelaufen sein muss, ehe ein Ex-Kommissar sich gegen Geld verdingen kann, wurde 2018 von eineinhalb auf zwei Jahre verlängert, ganze drei Jahre muss ein Kommissionspräsident warten. "Während dieser Zeit müssen ehemalige Mitglieder der Kommission diese vor Annahme einer neuen Beschäftigung informieren", heißt es in den Regeln, und bestimmte Tätigkeiten wie etwa Lobbyarbeit bei Mitgliedern oder Bediensteten der Kommission seien "Beschränkungen unterworfen". Oettinger ist es mithin derzeit untersagt, frühere KollegInnen zu lobbyieren, und neuen KommissarInnen darf er keine Hinweise gegeben, die Entscheidungen beeinflussen könnten.
"Das lässt sich in der Praxis aber kaum überprüfen, da ehemalige Kollegen in der EU-Kommission die Einhaltung der Regeln überwachen", so Freund. Der Grüne verlangt "eine unabhängige Ethikbehörde, die mögliche Regelverstöße untersucht und Sanktionen aussprechen kann". Wenn Spitzenpolitiker unmittelbar nach ihrem Amt in die Lobbyarbeit wechselten, geschehe das häufig, "weil zahlungskräftige Privatinteressenten sich Kontakte und Expertise sichern wollen". Es müsse aber gewährleistet sein, dass diese so genutzt werden, dass keine Interessenkonflikte auftreten, "weil sonst der Eindruck entsteht, Politik sei käuflich".
Oettinger wurden 2019 zu seinem Abschied nicht nur in Brüssel Kränze geflochten. Als einen "Glücksfall" für das Portfolio "Haushalt und Personal" lobte ihn beispielsweise die "Süddeutsche Zeitung", weil er in diesem Amt als Aktenfresser in seinem Element gewesen sei. Falls die Kommission dem Ungarn-Engagement zustimmt, könnte der inzwischen 67-Jährige Europa einen noch viel größeren Dienst erweisen, nimmt er doch für sich in Anspruch, Orbán nicht nur gut zu kennen, sondern auch einen gewissen Einfluss auf ihn zu besitzen. Die erste Aufgabe könnte darin bestehen, den Budapester Widerstand gegen die unverzügliche Umsetzung den neuen Rechtsstaatsmechanismus zu brechen und dem Autokraten zu erklären, dass nicht nur die EU insgesamt, sondern Ungarn selbst besser führe mit dem Respekt gegenüber demokratischen Prinzipien, allen voran der Kontrolle der Regierung durch das Parlament.
"Ich werde nicht für ein Gremium arbeiten, das die Wissenschaftsfreiheit nicht genügend achtet", hatte der Schwabe versprochen, als seine Ungarn-Pläne ruchbar wurden. Gut beraten wäre der knitze Ditzinger, wenn er in diesem Zusammenhang sich nicht nur für die Wissenschaftsfreiheit, sondern die europäischen Werte insgesamt stark machen würde. Wenn er denn darf.
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Waldemar Grytz
am 30.12.2020