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Mafia-Prozesse

Fehler im System

Mafia-Prozesse: Fehler im System
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Die Mafia fühlt sich wohl im Ländle. Auch weil deutsche Gerichte bislang kaum Interesse an Mafia-Prozessen hatten. Der Konstanzer Oberstaatsanwalt Joachim Speiermann wollte das ändern – und traf auf viele Widerstände.

Als der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) am 22. Mai vor die Presse trat, hatte er nicht nur allerlei Zahlen und Statistiken dabei, sondern auch eine Portion Pathos: "Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität verursachen jedes Jahr finanzielle Schäden in Millionenhöhe. Unsere Polizei ist schon im Jahr 2019 ganz entschieden gegen Betrügerbanden vorgegangen – und auch 2020 gehen wir diesen Weg entschlossen weiter", so Strobl bei der Vorstellung der Fallzahlen zur organisierten Kriminalität und Wirtschaftskriminalität 2019 im Land.

Erzählt man Joachim Speiermann davon, dann weiß er nicht so ganz, wie er sich dazu verhalten soll. In den vergangenen Monate hat er erlebt, dass Strobls Satz manchmal stimmt, aber oft eben auch nicht.

Speiermann ist Oberstaatsanwalt in Konstanz und hat im April mit einem engagierten Ermittlerteam des Polizeipräsidiums Rottweil einen der größten Mafiaprozesse in Deutschland erfolgreich zu Ende gebracht. In einem fast 100-tägigen Mammutverfahren am Landgericht Konstanz (die Tatorte waren im Schwarzwald) wurden insgesamt elf Angeklagte wegen Drogenhandel, Waffenbesitz und Einschüchterungsversuchen gegenüber Geschäftspartnern zu Haftstrafen zwischen anderthalb und neun Jahren verurteilt. Eigentlich ein Erfolg im Kampf gegen organisierte Kriminalität.

"Bleiben Sie an der Oberfläche!", rät der Richter

In eben jenem Prozess musste Joachim Speiermann aber auch erleben, dass der Rechtsstaat hierzulande manchmal lieber nicht so genau hinschauen will, wenn es um die Mafia geht. "Für mich symptomatisch war ein Satz des Vorsitzenden an den Chefermittler. 'Bleiben Sie an der Oberfläche', forderte der Richter ihn zu Beginn auf", erinnert sich der Staatsanwalt.

Wie kann das sein? "Das ist eine allgemeine Tendenz in der Justiz", sagt Speiermann. In die Tiefe gehende Strukturermittlungen brauchten Zeit und seien oft aufwändig. "Es ist viel einfacher, Geständige zu verurteilen. Es macht das Verfahren einfacher, aber man bleibt eben immer auch abhängig von den Aussagen des Angeklagten", erklärt der Ermittler in gepflegtem Norddeutsch, das sich auch nach mehr als 40 Jahren in Konstanz kaum abgeschliffen hat.

Joachim Speiermann, 63 Jahre alt, kurze Hose, blaues Poloshirt, Sandalen, Aktentasche, kann so offen reden, weil er gerade im Sabbatical ist und danach in den Ruhestand geht. Der Mafia-Prozess war sein letztes großes Verfahren. Nach 34 Jahren in der Justiz. Speiermann hat in Konstanz studiert, war Richter an verschiedenen Gerichten, 2002 wechselte er in die Staatsanwaltschaft Konstanz, zuletzt war er dort stellvertretender Behördenleiter und Leiter der Abteilung für Organisierte Kriminalität und Rauschgift. In die Schlagzeilen kam er schon mal vor 20 Jahren. Damals schickte er den renitenten Helmut Palmer für drei Monate ins Gefängnis. Wegen Beleidigung. Ohne Bewährung.

"Mafia? Das interessiert uns nicht", sagt der Richter

Und jetzt der Mafia-Prozess. Wobei: Eigentlich stimmt das mit dem Mafia-Prozess nicht so ganz. Schließlich ging es gar nicht um die Mafia. Mehrfach erklärte der Richter im Hauptverfahren: "Mafia? Das interessiert uns nicht." Eine Haltung, die Joachim Speiermann bis heute nicht versteht: "Ich hatte die Zugehörigkeit zur Mafia nicht angeklagt, aber ich hätte schon erwartet, dass man da genauer hinschaut. Für die Strafzumessung macht es einen Unterschied, ob einer ein Einzeltäter ist oder ob eine kriminelle Vereinigung im Hintergrund steht." Die Ermittler hatten jedenfalls klare Bezüge zur kalabrischen 'Ndrangheta gefunden. Die urteilende Kammer ließ es unberücksichtigt. Für Speiermann ein weiteres Indiz, dass in Deutschland zu wenig gegen organisierte Kriminalität getan wird.

Laut Sicherheitsbericht des Landes Baden-Württemberg wurden 2019 36 Verfahren wegen organisierter Kriminalität geführt, bundesweit waren es 2018 nur 535 Verfahren. Ein Grund für die geringe Zahl: fehlendes Personal. Der Richterverein Baden-Württemberg hat im vergangenen Jahr darauf hingewiesen, dass das Land dauerhaft noch mindestens 130 Richter und Staatsanwälte benötige, damit die Justiz ihrer Aufgabe gerecht werden könne. "Die Justiz ist jahrzehntelang personell derart ausgeblutet worden, dass nach wie vor ein erheblicher Aufholbedarf besteht", sagte Wulf Schindler, der Vorsitzende des Vereins der Richter und Staatsanwälte Baden-Württemberg.

Der Konstanzer Oberstaatsanwalt Joachim Speiermann sieht aber auch strukturelle Mängel im Rechtswesen. "Schauen Sie, es ist eine einfache Rechnung: Wir haben in Konstanz etwa 30 Staatsanwälte auf der einen und 30.000 Verfahren pro Jahr auf der anderen Seite. Das sind pro Kollege 1.000 Verfahren im Jahr, bei 200 Arbeitstagen im Jahr sind das fünf Fälle pro Tag, die wir bearbeiten müssen. Ein Ladendiebstahl ist in zehn Minuten fertig, kein Problem. Aber andere Verfahren sind natürlich aufwändiger. Und dann ist da bei manchen Kollegen kein Interesse, so große Verfahren zu führen. Die Tendenz ist bei uns leider: Schnell erledigen und fertig, weil man sonst der Masse der Verfahren nicht mehr Herr wird."

Kurze, schnelle Prozesse werden vom System belohnt

Eine Ursache dafür: Auch Staatsanwaltschaften und Gerichte werden immer häufiger an Quoten und Fallzahlen gemessen. Kurze, schnelle Prozesse, hohe Fallzahlen werden in diesem System belohnt. Aufwändige und langwierige Strukturermittlungen, die in die Tiefe gehen, eher nicht. 2005 hat die Wirtschaftsberatungsgesellschaft Arthur Andersen Business Consulting GmbH das so genannte Personalbedarfsberechnungssystem "Pebb§y" für die Landesjustizverwaltungen entwickelt. Mit Hilfe von Durchschnittswerten sollte der Personalbedarf transparent ermittelt werden. Das Problem dabei: Die angenommenen Zeitansätze für die zu erfüllenden Aufgaben gelten in der Praxis oft als unrealistisch.

Für Joachim Speiermann bedeutete es zum Beispiel, dass ihm für seinen Mafia-Prozess vom System 2.000 Minuten zugestanden wurden. Das sind etwa 33 Stunden. Alleine das Hauptverfahren dauerte aber fast 100 Tage. Zusätzliches Personal erhielt die Staatsanwaltschaft Konstanz trotzdem nicht. "Das hat teilweise absurde Züge: Personalmäßig stehen Sie als Behörde dann nämlich besser da, wenn Sie 1.000 Ladendiebstähle verhandeln, anstatt bei aufwändigeren Verfahren genauer hinzuschauen", so der Oberstaatsanwalt.

Seit 34 Jahren arbeitet Joachim Speiermann in der Justiz, er wollte nie etwas anderes machen, er mochte seinen Beruf immer. Doch jetzt, auf den letzten Metern seiner Karriere, scheint da etwas zerbrochen zu sein zwischen ihm und Justitia. Systemfehler einerseits, aber auch das: "Ich vermisse zuweilen bei einigen Kollegen auch ein wenig das Arbeitsethos. Arbeit an Wochenenden ist nicht immer sehr beliebt. Viele der jungen Kollegen streben zudem auch einen Wechsel zu den Gerichten an. Mit dieser Einstellung können Sie in der Verbrechensbekämpfung aber nichts gewinnen."

Wohl dem, der sich gute Anwälte leisten kann

Und dann kommt ein Satz, der einem so wuchtig um die Ohren fliegt, dass einem kurz mal der Atem stockt: "Wissen Sie, es gibt in der Justiz sogenannte "Strafverfolger" und sogenannte "Strafvereiteler", und ich habe den Eindruck, dass die "Strafvereiteler" derzeit auf dem Vormarsch und leider schon in der Mehrheit sind." Bämm.

Folgen dieser dauerhaften Überlastung des Justizsystems kann man jetzt schon sehen: Fälle werden nicht mehr zeitnah verhandelt, das Ungerechtigkeitsempfinden in der Gesellschaft steigt, Staatsanwälte und Richter arbeiten immer am Rande der Verjährungsfrist, der Druck, Deals zu schließen, um die Verfahren doch noch irgendwie zu einem Abschluss zu bringen, nimmt zu. Und mehr Deals führen irgendwann zu einem sozialen Ungleichgewicht: Weil so die Chance steigt, dass Leute, die sich bessere Anwälte leisten können, mildere Urteile heraushandeln können. Gesellschaftlich ist das eine, nun ja, schwierige Entwicklung.

Der Journalist Sandro Mattioli, der auch Vorsitzender des Berliner Vereins "mafianeindanke" ist und seit Langem auch für Kontext zum Thema schreibt, hat den Prozess in Konstanz genau beobachtet. Der Mafia-Experte findet, die Staatsanwaltschaft habe ihre Aufgabe gut gemacht: "Weil Leute aus dem Verkehr gezogen wurden, die nicht ganz unbedeutend waren in der Struktur der 'Ndrangheta, und weil die Ermittlungen gezeigt haben, was möglich ist, wenn akribisch gearbeitet wird", so Mattioli.

Der Prozess sei zumindest ein Anfang, weil er auch Spuren nach Münster und Stuttgart gelegt habe. "Ich finde es bemerkenswert, dass die Staatsanwaltschaft Konstanz in Stuttgart ermitteln muss, damit etwas passiert", so Mattioli. Konkretisieren will er das öffentlich nicht weiter, nur so viel: "In Stuttgart ist man in den vergangenen Jahren nicht so ermittlungsfreudig in Sachen Mafia gewesen wie andernorts."

Wie nah sind sich Mafia und Politik in Stuttgart?

Spätestens seitdem der Fall Mario Lavorato 1994 öffentlich wurde, wird immer wieder über eine Nähe zwischen Politik und Mafia in der Landeshauptstadt spekuliert. Lavorato galt als Duzfreund des damaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger, der Pizzabäcker belieferte laut "Spiegel" Feste der CDU-Landtagsfraktion und spendete 4.500 Mark an die Union. Im vergangenen Jahr wurde er in Italien zu knapp elf Jahren Gefängnis verurteilt. Sein System: Wein und Lebensmittel mussten zu überhöhten Preisen gekauft werden, Dutzende Wirte im Großraum Stuttgart, aber auch in der Rheinschiene und darüber hinaus waren betroffen.

Insgesamt, so Mattioli weiter, werde das Thema Mafia in Deutschland chronisch unterschätzt. Dabei hätten Ermittlungen italienischer Staatsanwaltschaften doch längst gezeigt, dass die Mafia flächendeckend in Baden-Württemberg vertreten sei. 585 Menschen stünden in Deutschland im Verdacht, Mitglieder einer der verschiedenen Mafia-Organisationen zu sein, schreibt das Stuttgarter Innenministerium in seinem Sicherheitsbericht 2019. Mafia-Experte Sandro Mattioli geht von einer weit höheren Zahl aus. 3.000 Mitglieder habe allein die 'Ndrangheta in Deutschland. Er stützt sich dabei auf Angaben des italienischen Staatsanwalts Niccoló Caranti, einem der absoluten Experten für die 'Ndrangheta in Deutschland.

Wichtig sei auch, sagt Mattioli, die legalen Geschäfte der mutmaßlichen Mafiosi stärker in den Blick zu nehmen. Denn Geldwäsche funktioniere längst nicht mehr nur in Restaurants und Lebensmittelgeschäften, sondern auch in komplexeren Finanzoperationen. Und man müsse auch kleine, beschauliche Orte in den Blick nehmen, auch dort existierten Mafia-Strukturen.

Corona-Betrug – die neueste Masche der Mafia

Dass sich die Mafia wohlfühlt im Ländle, hat auch Oberstaatsanwalt Joachim Speiermann in seinem Verfahren erlebt. In einem abgehörten Gespräch zwischen zwei Beschuldigten riet der eine dem anderen: "Du musst nach Deutschland gehen, da passiert dir nichts."

Neuestes Betätigungsfeld der Mafia: Die Corona-Krise nutzen, um noch tiefer als bisher legale Wirtschaftsbereiche zu infiltrieren und Hilfsgelder zu ergaunern. Das machte die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen Fraktion im Bundestag im Juni deutlich. Die Antwort war zwar wenig konkret, machte aber doch deutlich: Die Gefahr ist da.

Den Mafia-Experten Sandro Mattioli alarmiert das: "Einerseits wird sehr viel Geld ausgegeben, um die Folgen der Pandemie einzudämmen, andererseits ist kaum Wissen vorhanden, um zu verhindern, dass Mafia und Co. von diesen Milliarden profitieren", warnt er. Vor allem, dass Mafiosi insolvent gegangenen Betriebe übernehmen könnten, sorgt ihn.

Ob das Justizsystem all dem noch gewachsen ist? "In erster Linie braucht es motivierte Polizeibeamte und motivierte StaatsanwältInnen. Das ist das Wichtigste und da hatte ich großes Glück in meinem Verfahren, weil alle an einem Strang zogen", sagt der Konstanzer Oberstaatsanwalt Joachim Speiermann. Fragt man ihn, was es sonst noch besser werden muss, dann zählt er auf: mehr Personal, bessere Fortbildung und mehr internationale Zusammenarbeit.

Auf einen wie ihn muss das System freilich verzichten. Nach dem Sabbatical geht er in den Ruhestand: "Für mich war das jetzt ein guter Zeitpunkt aufzuhören", sagt der 63-Jährige. In die Kommunalpolitik zurückkehren will er dann aber auch nicht. Zehn Jahre saß er für eine naturnahe Liste im Gemeinderat der Insel Reichenau. "Das war eine interessante Zeit, aber in ihrem Hang zu Kompromissen und Deals sind sich Politik und Recht sehr ähnlich." Und von Kompromissen hat Joachim Speiermann jetzt endgültig genug.


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3 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 19.08.2020
    Antworten
    Der Richter: "Bleiben Sie an der Oberfläche!" und "Mafia? Das interessiert uns nicht" [1]
    Der Oberstaatsanwalt: … und traf auf viele Widerstände. [2]

    Kurze, schnelle Prozesse werden vom System belohnt – Welches System? Von wem belohnt?
    Nun steht im Grunde genommen die Beantwortung im Artikel…
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