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Auerhahn-Prozess

Hahnenkrampf

Auerhahn-Prozess: Hahnenkrampf
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Zwei Betrunkene erschlagen einen Auerhahn und die ganze (Medien-)Welt schaut gebannt auf Titisee-Neustadt, wo den Schurken der Prozess gemacht wird. Millionen Küken vorm Schredder fragen sich: Und was ist mit uns?

Wenn sich sogar die "New York Times" für das Geschehen im deutschen Südwesten interessiert, ist wahrscheinlich ein Tier gestorben. So war es bei Nummer 53, dem Mannheimer Pinguin, über dessen tragisches Schicksal rund um den Globus berichtet wurde. Wir erinnern uns: Nachdem der Pechvogel erst aus dem idyllischen Luisenpark verschwand und später ohne Kopf aufgefunden wurde, vermutete die "Bild"-Zeitung organisierte Kriminalität hinter dem Tatgeschehen, der Obduktionsbericht einen Fuchs. Und auch nun, da die Welt gebannt nach Titisee-Neustadt blickt, ist es keineswegs das Schwärzenbacher Bulldoggen-Kabarett, das die internationalen Schlagzeilen dominiert, sondern ein Auerhahn, der, wie zu befürchten steht, tatsächlich durch Menschenhand ums Leben kam.

Die "New York Times" schreibt von einem höchst verwunderlichen ("most surprising") Fall und fasst zusammen: "An endangered bird may have attacked two men in a forest, they attacked and killed the bird, and a crowd attacked the two men. Less surprising, alcohol was involved." Auf deutsch: "Ein vom Aussterben bedrohter Vogel könnte zwei Männer in einem Wald attackiert haben, diese attackierten und töteten den Vogel, und eine Menge attackierte die zwei Männer. Wenig überraschend, war Alkohol im Spiel."

Zehn zornige Zeugen bespucken Auerhahn-Attentäter

Die zehn zornigen Zeugen, die das Auerhahn-Attentat laut Medienberichten beobachtet haben sollen und daraufhin die mutmaßlichen Übeltäter angriffen und bespuckten, wurden zwar ihrerseits noch nicht juristisch belangt. Am 28. Juli und dem 4. August mussten sich allerdings die zwei jungen Männer vor Gericht verantworten, denen zur Last gelegt wird, einen der Hühnervögel auf der Roten Liste am Rande des traditionellen Laurentiusfests mit einer Flasche erschlagen zu haben. "Notwehr", argumentieren die Beschuldigten, "Quatsch" entgegnet ein Zeuge: "Vor so einem kleinen Tier braucht man keine Angst haben."
 


Glaubwürdig wäre die Behauptung, aus Selbstschutz gehandelt zu haben, allenfalls dann, wenn die beiden Trunkenbolde keinem harmlosen Auer-, sondern einem furchteinflößenden Rackelhahn begegnet wären: Dieser verhaltensgestörte Bastard mit erheblichem Aggressionspotenzial, der aus der unheiligen Vereinigung von Birkhahn und Auerhenne hervorgehen kann, zerrupft sogar nahe Verwandte, wenn er sie nur zwischen die Krallen bekommt. Doch mit einem einfachen Totschlag gibt er sich nicht zufrieden. Im Blutrausch kommt es schon mal vor, dass er seinen Opfern den Kopf abreißt und anschließend mit ihren Leichen kopuliert.

Im Gegensatz dazu ist die konkrete Bedrohung durch den – wenn auch bisweilen aufmüpfigen – Auerhahn überschaubar. Beim "Spiegel", wo ausführlich über den Totschlag und die nachfolgende Gerichtsverhandlung berichtet wird, räumt einer der Angeklagten schließlich ein: "Ich habe ein- bis zweimal draufgehauen, weil ich wollte, dass es ruhiger wird." Der Richter, der, wie die "Badische Zeitung" berichtet, von den Beschuldigten eine "aufrichtige Reflexion" des Geschehens vermisst, ging in seinem Urteil noch über die von der Staatsanwaltschaft geforderte Geldstrafe hinaus und verurteilte den 21-jährigen Haupttäter zu einer Woche Arrest.

Wenig Mitleid für die Verwandtschaft

Während der eine Vogeltod Emotionen entfacht, ja, die Welt bewegt, findet das routinierte Abschlachten der Auerhahn-Verwandtschaft, von etwa 620 Millionen deutschen Masthühnern pro Jahr, allenfalls als Randnotiz Eingang in die Berichterstattung.

Womöglich liegen die sehr ungleichen Standards am Gewöhnungseffekt: Einen Auerhahn zu erschlagen, kommt stets unerwartet, da er als bedrohte Art einen anderen Status genießt als die im Überfluss vorhandene Schnetzelmasse, welche zwecks Genuss zu töten seitens der Rechtsprechung gemeinhin als "vernünftiger Grund" anerkannt ist. Damit stellt es so wenig einen Verstoß gegen den Tierschutz dar, dass auch die qualvolle Aufzucht bis zur Verwertung als Billigfleisch kein Problem mehr ist.

Auerhahn müsste man sein. Dann müsste man sich nur vor Betrunkenen in Acht nehmen.


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