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Blöder als ein Einzeller

Blöder als ein Einzeller
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Der Schleimpilz ist ein eigentümlicher Sonderling und, auch wenn sein Name anderes vermuten lässt, kein Pilz. Auch kein Tier und auch keine Pflanze. Der Schleimpilz ist Begründer seiner eigenen Kategorie im Reich der Lebewesen und ein Genius, der seinesgleichen sucht. So steht zumindest zu vermuten, dass der Organismus ohne Gehirn eine geschicktere Verkehrsplanung betreibt als die Deutsche Bahn.

Und das ist nicht einmal gelogen. Selbst das wirtschaftsfreundliche "Handelsblatt" titelte bereits: "Schleimpilze sind schlauer als Ingenieure". Denn was den weltgrößten Einzeller von stümperhaften Stadtplanern und vermeintlichen Verkehrsspezialisten unterscheidet, ist die Tatsache, dass er in Stunden schafft, was jene in Jahrzehnten nicht zustande bringen: Er findet die effizientesten Verbindungen, in seinem Fall um Nährstoffe über den teils bis zu mehreren Quadratmetern anwachsenden Körper zu verteilen und weiter zu expandieren.

So setzte ein japanisches Forscherteam schmackhafte Haferflocken auf eine Landkarte, im passenden Verhältnis zur Einwohnerzahl den dicksten Batzen auf Tokyo. Dem Schleimpilz gelang es in weniger als 24 Stunden, die besten Verbindungen zu den umliegenden Städten zu finden – und dabei düpierte er ganz nebenbei alle menschlichen Überlegungen zum Thema, indem er das real existierende Schienennetz übertrumpfte.

Der Schleimpilz hat nämlich immer einen Plan B. Für die Erkenntnis, dass es sinnvoll ist, nicht darauf zu vertrauen, dass schon alles irgendwie hinhauen wird, braucht es offensichtlich nicht einmal ein Gehirn. Denn seine wichtigen Hauptleitungen, unerlässlich für eine zuverlässige Versorgung des Organismus mit Nährstoffen, sind stets umgeben von weniger intensiv genutzten Parallelverbindungen. Sollte so einmal auf einer Leitung der Kollaps drohen, kann der Schleimpilz mühelos und ohne nennenswerte Einbußen auf eine der Alternativrouten umsteigen. Schleimpilz-Spezialist Toshiyuki Nakagaki, maßgeblich für das Experiment verantwortlich, war ganz begeistert: "Netzwerkingenieure könnten sich künftig Anregungen holen." Und tatsächlich geschieht das inzwischen international.

Dennoch lässt sich auf Wikipedia die bodenlos unverschämte Aussage lesen: "Für den Menschen sind Schleimpilze weitgehend ohne Bedeutung." Und die Deutsche Bahn glaubt das auch noch, zumindest ist der Redaktion nicht bekannt, dass sie den brillanten Einzeller in ihre dürftige Planung miteinbezogen hätten. Sicher ist jedenfalls: Hätte man den sympathischen Schleimpilz mit <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik rastatt-zieht-kreise-4552.html external-link-new-window>der Streckenführung der Rheintalbahn beauftragt – er hätte dafür gesorgt, dass der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung des Landes gerade an neuralgischen Punkten genügend Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stehen, damit sich die Verluste in Grenzen halten, für den Fall, dass es auf der Hauptleitung zu einer Störung kommt. Wobei. Auch die Deutsche Bahn hat das bedacht. Und so rollen jetzt Güterzüge über Schienen des Personenverkehrs, natürlich gaaaaanz langsam, damit letztere nicht zu schaden kommen. Das Planungsdesaster verursacht bis dahin voraussichtlich Schäden im dreistelligen Millionenbereich. Die einzellige Eminenz hingegen hätte wahrscheinlich nicht einmal ein Honorar verlangt.

Bei manchen Problemen dürfte jedoch selbst der Schleimpilz an seine Grenzen stoßen. Etwa bei der Frage, <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik spd-zuendet-nicht-4551.html external-link-new-window>wie die SPD aus dem ewigen Umfragetief herauskommt. Oder, wie es nun mit dem Tunnelbau zu Rastatt weitergehen soll. Der 90 Meter lange, 11 Meter dicke teure Superbohrer wird aufgegeben und einbetoniert. Und dann? Bohrt sich die Bahn durch den Bohrer? Niemand weiß es. Biologisch abbaubar ist das Gerät aus 1750 Tonnen Stahl nicht (im Gegensatz zum Schleimpilz), versichert Hersteller Herrenknecht, und dessen Pressesprecherin muss glucksend einräumen: "Keine Ahnung, was da draus wird. So einen Fall hatten wir noch nie." Bei einem Kaufpreis von 18 Millionen Euro sollte man wenigstens erwarten können, dass das Teil nicht allzu bald anfängt zu rosten.

Eventuell überdauert der Stahlkoloss gar das menschliche Geschlecht. Abwegig ist das nicht, selbst wenn <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik siller-fragt-agnieszka-brugger-4555.html external-link-new-window>manch eine Zeitgenossin noch auf eine Welt ohne Atomwaffen hofft. Zahlreiche Wissenschaftler favorisieren ohnehin mit Fortschreiten der Evolution die Familie der Oktopusse als Regenten der Zukunft. Auch Team Fungus (lat. Pilz) hat riesengroßes Potenzial. Welche Spezies sich auch durchsetzen mag: Künftige Zivilisation werden wohl staunend <link https: www.kontextwochenzeitung.de schaubuehne was-die-steine-sagen-4537.html external-link-new-window>auf ein lange vergessenes Relikt aus antiken Zeiten blicken, rätselratend, mutmaßend, was es mit der ominösen Konstruktion auf sich hat. Und zu befürchten steht, auch dann wird es sie noch geben, die rechtsesoterischen Ufoexperten, die ihren Zeitgenossen mit schockierenden Enthüllungen die Augen öffnen: Es handelt sich garantiert um das Werk von Außerirdischen!


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4 Kommentare verfügbar

  • Charlotte Rath
    am 23.08.2017
    Antworten
    Heinrich Steinfest hatte in seinem Buch "Wo die Löwen weinen" die Stuttgarter DB-Arbeiten zum Anlass genommen, eine gewaltige Maschine in den Untergrund hinein zu phantasieren. Wer aus seiner Leserschaft hätte gedacht, dass die Maschine auf Betreiben der DB AG einen Namen und Schlagzeilen in der…
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